Blut Von Deinem Blute
an, in der nicht jeden Tag zehn Menschen ermordet und ein paar hundert andere vergewaltigt oder überfallen werden. Alles gut und schön. Bloß dass dieselben Leute, die sich so bereitwillig von einem blauen Himmel und ein paar Blumen einlullen lassen, nur allzu gern verdrängen, dass es selbst im Paradies eine Schlangegegeben hat.« Er knallte die Akte vor sich auf die Tischplatte. »Aber lassen wir das. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«
»Ich habe bereits einiges über den Fall gelesen«, sagte Leon, »aber mir ist durchaus bewusst, dass man nicht alles für bare Münze nehmen darf, was die Medien verbreiten.« Er ließ den Satz offen und sah Hearing an, doch es fiel dem PPU-Mann nicht ein, den Köder zu schlucken.
»Alles in allem haben sie damals erstaunlich fair berichtet«, sagte er stattdessen, indem er die Akte aufklappte und eine Weile schweigend auf das Deckblatt starrte. »Dabei schrie dieser Fall geradezu danach, in jeder erdenklichen Weise ausgeschlachtet zu werden, wenn Sie mir den Ausdruck in diesem Zusammenhang verzeihen.« Er seufzte. »Ein reiches Ehepaar wird in seinem Wohnhaus erschlagen. Es gibt keine Einbruchsspuren, keine geknackten Schlösser und auch sonst keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung, aber dafür eine Tochter, die friedlich in ihrem Zimmer im Dachgeschoss schlummert, während zwei Etagen unter ihr ein brutaler Mörder wütet.«
»Der Täter hat das Haus folglich nicht durchsucht?«, hakte Leon ein.
Hearing schüttelte den Kopf. »Bradley hatte kurz vor dem Mord ein paar tausend Pfund aus dem Hotelsafe genommen«, entschloss er sich schließlich doch, ein wenig ausführlicher zu werden. »Das Geld steckte in einem Briefumschlag in der obersten Schublade seines Sekretärs. Der Mörder hätte also nicht mal die Treppe raufgehen müssen, um es zu finden. Aber er rührte es nicht an. Dabei muss er sich mindestens zwei Stunden in dem Haus aufgehalten haben.«
Zeit, dachte Leon. Zeit ist der alles entscheidende Faktor in diesem Fall. »Können Sie mir den Ablauf der Tat noch einmal genau schildern?«, bat er, wobei er keineswegs sicher war, ob Hearing dieser Bitte entsprechen würde.
Doch er irrte sich. Der PPU-Beamte klappte bereitwillig seine Akte auf. »Unsere Ermittlungen haben ergeben, dass Nicholas Bradley gegen 0:30 Uhr aus dem Hotel herüberkam«, erklärte er, nachdem er die ersten Seiten überflogen hatte. »Die Bar hat bis ein Uhr früh geöffnet, und Bradley holte immer kurz vor Geschäftsschluss die Einnahmen des Abends ab, um sie in den Safe in seinem Büro zu bringen. Am Abend des Mordes hat er den Gastraum gegen 0:20 Uhr verlassen. Den quittierten Betrag fanden wir später auch tatsächlich im Safe, was im Klartext heißt, dass Bradley das Geld wie gewohnt ins Büro gebracht haben muss, bevor er über den Hof ging und sein Haus durch die Vordertür betrat. Zu diesem Zeitpunkt lag seine Ehefrau bereits tot in der Küche.« Hearing stemmte seine rundlichen Hände gegen die Tischkante. »Bradley findet sie, beugt sich über ihre Leiche und wird ebenfalls niedergeschlagen. Laut gerichtsmedizinischem Gutachten starb er an Ort und Stelle, ohne das Bewusstsein noch einmal wiedererlangt zu haben.«
Leon beobachtete Hearings Gesicht genau, und irgendetwas an dessen Miene gab ihm das Gefühl, dass der PPU-Beamte etwas zurückhielt. »Wo war die andere Tochter in der bewussten Nacht?«, erkundigte er sich, wobei er sich alle erdenkliche Mühe gab, so beiläufig wie möglich zu klingen.
»Sie hat bei ihrer Patentante geschlafen«, antwortete Hearing. »Das tat sie öfter. Die Mädchen haben sich nichtbesonders gut mit ihrer Stiefmutter verstanden und kamen und gingen, wie es ihnen in den Kram passte.«
Das klingt plausibel, dachte Leon erleichtert. Plausibel und absolut harmlos. »Aber die jüngere Schwester war im Haus, als es passierte?«
Na toll, schimpfte Kevin hinter Leons Stirn, lenk nur schnell ab von allem, was dir gefährlich werden könnte!
Doch Hearing nickte. »Ja, sie war in ihrem Zimmer im oberen Stock.«
»Aber sie hat von der Tat nichts mitbekommen?«
»Nein.«
»War sie auch diejenige, die die Leichen gefunden hat?«
»Eigentlich nicht.«
Leon hob überrascht die Augenbrauen. »Was heißt eigentlich?«
»Angeblich ist sie in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um in der Scheune hinter dem Haus zu malen.« Hearing verzog die Lippen. »Bemerkenswerterweise hat sie dabei aber nicht den Weg durch die Hintertür genommen, die sie an der geöffneten
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