Blut Von Deinem Blute
Krähen liefen mit tief heruntergezogenen Köpfen zwischen den Steinen umher, auf der Suche nach Nahrung.
Eigentlich stehe ich gerade mitten auf dem Meeresboden, dachte Leon, indem er den Blick über die aufgetürmten Felsbrocken ringsum schweifen ließ, die bei Flut allesamt unterhalb des Wasserspiegels lagen – einer der Gründe, warum die Südweststrecke der Insel unter Seeleuten als besonders gefährlich galt.
Das Schwimmen war in diesem Küstenabschnitt ebenfalls nicht gestattet. Zu stark der Sog der Gezeiten, zu unberechenbar die Wellen, die gegen die Riffe schlugen. Dafür boten sich dem einfachen Spaziergänger geradezu atemberaubend dramatische Ausblicke. Corbiere Lighthouse hockte weiß und trutzig auf der Spitze eines imposanten Felsens, um nachts seine Lichtsignale in die finsteren Weiten zu schicken – bis zu neunundzwanzig Kilometer weit, wie Leon einer der Broschüren entnommen hatte, die überall im Hotel auslagen. Ein paar Meter abseits des Weges war ein Angler eben dabei, seine Ausrüstung auszupacken. Die kraftvolle Strömung spülte Tag für Tag einGroßangebot an Fischen an die Westküste Jerseys, doch im Augenblick lag das Meer noch weit zurückgezogen, irgendwo hinter den haushohen Granitbrocken. Ein Blick auf die Uhr gemahnte Leon allerdings daran, dass das Wasser bereits wieder auflief. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Fluten in diese eigentümliche Zwischenwelt aus Stein zurückdrängten, und auch, wie es hier an einem Tag aussehen mochte, der nicht so wolkenlos und windstill war wie dieser. Doch es wollte ihm nicht gelingen.
Da er keine Ahnung hatte, wie viel Zeit ihm noch blieb, beschloss er, kehrtzumachen und stattdessen lieber noch ein Stück an der Küste entlangzuwandern. Er kehrte zu der Bushaltestelle zurück, von der er gestartet war, und wandte sich nordwärts, Richtung La Pulente. Nach ein paar hundert Metern führte ein steiler Klippenpfad an den felsigen Strand von Petit Port hinunter. Links und rechts davon wuchsen unzählige Farne, von denen sich einige bereits vorherbstlich verfärbten. Das satte Rotbraun der Wedel leuchtete im Licht der tief stehenden Sonne kupferrot, dazwischen blühte das Heidekraut in allen erdenklichen Violett-Nuancen.
Als der Strand allmählich sandiger wurde, zog Leon seine Schuhe aus und warf sie sich an den Schnürsenkeln zusammengebunden über die Schulter. Er marschierte eine ganze Weile dicht am Flutsaum entlang, bevor er sich auf einem niedrigen, annähernd runden Felsen niederließ, der wie ein liegengelassenes Spielgerät unmittelbar hinter der Wasserlinie lag. Der Stein war noch immer feucht, und Leon breitete seine Windjacke darüber, damit er sich setzen konnte. Anders als im geschützten Landesinneren, wo die Luft an diesem Tag fast stillstand, wehtehier an der Westküste ein angenehm frischer Wind, der die Atmosphäre mit Abertausenden von Negativ-Ionen anreicherte. Negativ-Ionen, die angeblich den Kopf frei und das Atmen leicht machten. Leon seufzte und dachte über die Frage nach, warum Jacqueline Bresson zwei Stunden vor ihrem Mann gestorben war. Hatte Nicholas Bradleys Mörder tatsächlich in der Küche des Herrenhauses auf sein Opfer gelauert und war dabei von der Hausherrin überrascht worden? War Jacqueline Bresson nur getötet worden, weil sie jemandem in die Quere gekommen war? Oder hatte es der Täter, im Gegenteil, ganz gezielt auf sie abgesehen?
»Sieh an«, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich, »da ist ja der Kerl, der unserer armen Ginny eine solche Angst einjagt.«
Leon wandte den Kopf. Vor ihm stand Mia Bradley. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt ein sauberes weißes Herrenhemd zu ihren Bluejeans, dessen üppige Weite ihren zierlichen Knochenbau betonte. Die Ärmel waren bis zur Schulter aufgekrempelt. Darunter kamen zwei sonnengebräunte, muskulöse Arme zum Vorschein.
»Schön hier, nicht wahr?«, sagte sie, indem sie an ihm vorbei auf das offene Meer sah.
Leon nickte. »Ein Traum.«
»An diesem Strand war ich schon als Kind am liebsten«, erklärte sie, indem sie sich ungefragt neben ihm auf dem Felsen niederließ. »Ich dachte, hinter den Wellen liegt ein geheimnisvolles Land, in dem es keine Menschen gibt. Und wenn es einem gelingt, dorthin zu schwimmen, dann findet man einen riesigen Schatz.« Sie lachte hell auf. Eine Mischung aus Wehmut und Unglauben. »Es ist die Weite,wissen Sie? Von hier aus sieht man kein Land mehr. Es ist ein einziger großer Raum für Phantasie.«
»Ich
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