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Blut Von Deinem Blute

Titel: Blut Von Deinem Blute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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sich, seine Frage zu beantworten. »Tut mir leid wegen heute früh«, sagte sie nach einemMoment des Schweigens scheinbar zusammenhanglos. »Ich reagiere vielleicht manchmal ein bisschen zu heftig ...« Sie stutzte, und ihre Augen wanderten wieder aufs Meer hinaus, als fänden sie Schutz in der glitzernden Weite. »Aber ich war's nicht.«
    Sie hatte so leise gesprochen, dass Leon nicht sicher war, ob er richtig verstanden hatte. »Was waren Sie nicht?«
    Ihr Blick wurde starr. »Ich habe meinen Vater nicht umgebracht. Das hat man Ihnen doch erzählt, oder? Dass ich verrückt bin und meinen Vater mit einer Axt erschlagen habe.«
    Leon wagte nicht, ihr zu antworten. Stattdessen betrachtete er ihr Profil. Ihre Augen hatten jetzt einen entfernten, abwesenden Ausdruck, und er überlegte, warum sie es für nötig hielt, sich ihm, einem wildfremden Hotelgast, gegenüber zu rechtfertigen. Und warum sie nur von ihrem Vater gesprochen hatte, eben.
    Ich habe meinen Vater nicht umgebracht . ..
    Minute um Minute verstrich. Die Wellen umspülten bereits die Vorderseite des Felsens, auf dem sie saßen, und Leon dachte daran, was Inga Bengtson ihm über den rekordverdächtigen Tidenhub der Kanalinseln erzählt hatte.
    Neben ihm starrte Mia Bradley noch immer aufs Meer hinaus. »Mochten Sie das Märchen von der kleinen Meerjungfrau?«, fragte sie unvermittelt.
    »Ich glaube nicht«, sagte Leon.
    »Warum nicht?«
    »Ich glaube, es hat mich traurig gemacht.«
    »Aber sie weiß, wofür sie sich opfert«, widersprach sie. »Das ist mehr, als die meisten Menschen von sich behaupten können.«
    Er wollte etwas entgegnen, doch Mia Bradley war bereits aufgesprungen und stapfte mit energischen Schritten auf die Dünen zu.
    Nach ein paar Metern drehte sie sich allerdings noch einmal um: »Geben Sie auf die Priele acht!«, rief sie ihm zu. »Wenn Sie nämlich noch lange da rumsitzen, holt Sie die Flut. Und dann hilft Ihnen auch das bisschen Jacke unter Ihrem Arsch nicht mehr weiter!«
    Der Wind trug ihr Lachen an Leons Ohr, als sie davonging.

8
    Es war totenstill im Haus.
    Kein Wind mehr. Kein Geräusch. Kein Rascheln von Vorhängen, die eine sanfte Brise ganz sacht ins Schwingen gebracht hätte.
    Nichts als eine bodenlose, erdrückende Stille.
    Ob diese Stille real war oder zu ihrem Traum gehörte, wagte sie nicht zu beurteilen. Oder es war ihr schlicht und ergreifend egal. Inzwischen war ihr vieles egal, was hauptsächlich daran lag, dass sie nicht das Gefühl hatte, irgendeinen Einfluss auf ihre Umgebung nehmen zu können. Sie konnte nicht rufen, um sich bemerkbar zu machen. Sie konnte die Augen nicht öffnen. Sie konnte nicht einmal aufwachen. Und wenn es still war, dann war es eben still. Punkt. Gegen die Stille konnte sie genauso wenig tun wie gegen das Rauschen des Windes zuvor.
    Immerhin träumte sie wieder und sie versuchte, sichganz auf die Bilder zu konzentrieren, die aus ihrem Unterbewusstsein heraufdämmerten: Sie geht die Treppe hinunter, immer wieder die Treppe. Um in der tiefen Finsternis, die sie umgibt, nicht zu stolpern, setzt sie ihre Schritte langsam und vorsichtig. Trotzdem machen ihre nackten Füße einen Heidenlärm in der Stille des Hauses.
    Das ist nicht gut, denkt sie, aber sie weiß auch nicht, wie sie verhindern soll, dass man sie hört. Also geht sie einfach weiter. Schritt für Schritt.
    Aus der Diele neben der Treppe schimmert etwas von dem Licht, das sie so gut kennt, zu ihr herauf. Jenes Licht, das aus der Küche kommt und das wie der Spot eines Scheinwerfers auf der toten Madame Bresson liegt, so grell und heiß, dass deren Blut eintrocknet, kaum dass es aus ihrem Mund tritt. Allerdings ist das Licht heute ein ganzes Stück schwächer als sonst, aber das wundert sie nicht weiter. Seit einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkommt, ist alles gedämpft. Gedämpft oder nicht mehr vorhanden. Schwarze Fäden und Nebel allenthalben.
    Ihre Füße tasten sich weiter. Die Stufen unter sich kann sie nur erahnen. Aber sie weiß ja, wie der Traum weitergeht. Sie weiß, dass sie hinunter muss, ins Erdgeschoss und dann durch die Diele. Zur Küche. Fast ärgert sie sich, dass sie noch nie auf die Idee gekommen ist, die Stufen zu zählen. Wenn sie das getan hätte, würde sie jetzt ganz genau wissen, wo sie ist. Aber sie hat die Stufen leider nicht gezählt, und deshalb hat sie keine Ahnung, wo sie sich gerade befindet. Anhand des fernen Lichtes zu urteilen, müsste sie eigentlich schon im ersten Stock sein, aber da ist

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