Blut Von Deinem Blute
nichts, das ihr einen Hinweis gibt. Keine Türen. Keine Konturen. Nur Dunkelheit.
Als sich ihr Fuß auf etwas Weiches hinabsenkt, zuckt sie erschreckt zusammen.
Da liegt etwas auf der Treppe!
Ein Stück Stoff, denkt sie, oder ein zusammengeknülltes Kleidungsstück. Sie will den Fuß zurückziehen, doch ihr Gewicht hat sich längst verlagert, nach vorn, treppabwärts. Das Ding, auf das sie tritt, nein: treten muss, ist warm. Sie spürt ein kräftiges Pochen unter ihrer Sohle, als es platzt. Etwas von der weichen Wärme quillt zwischen ihre Zehen, darunter spürt sie deutlich die Kante der Stufe. Ein unangenehmer Geruch von nassem Fell steigt ihr in die Nase. Nasses Fell und Verwesung.
Ein Meerschweinchen!, schießt es ihr durch den Kopf. Ich habe ein Meerschweinchen totgetreten!
Voller Panik streift sie ihren Fuß an der nächsten Stufe ab. Weg, weg, weg!
In der Dunkelheit ringsum flattert etwas, und sie hat das dringende Gefühl, beobachtet zu werden. Da ist ein Paar Augen, das auf sie gerichtet ist. Augen, die jede ihrer Bewegungen verfolgen. Und noch immer pulsiert es zwischen ihren Zehen. Sie kann die Wärme des kleinen Körpers unter sich fühlen.
Mein Gott, denkt sie, es lebt noch!
Sie will sich bücken, aber ihre Hände greifen ins Leere. Da ist nichts, das sie fassen könnten. Kein Fell, kein zerstörter Körper. Nur das Flattern von Vögeln, denen die Dunkelheit nichts auszumachen scheint. Die sich auch abseits des Lichts orientieren können, dort, wo es vollkommen finster ist.
Verwirrt geht sie weiter. Zur Küche. Wohin sonst?
Auf dem Tisch liegt ihre Mutter, die Beine gespreizt,mitten in der klinischen Helligkeit. Sie scheint sie erwartet zu haben, denn sie hebt grüßend die Hand. Aber sie trägt nicht ihren üblichen Kittel, sondern das Brautkleid, das wie durch Zauberhand wieder heil ist. Ganz heil.
Am Herd sitzt Madame Bresson mit erstarrten Augen und Mehl an den Händen. Und auch Mia ist da. Sie malt, ganz wie sonst, und scheint nichts um sich herum wahrzunehmen.
Jetzt muss er gleich zur Tür hereinkommen, denkt sie und dreht sich um. Direkt vor ihren Augen hängt eine Uhr von der Decke, obwohl es in der Küche noch nie eine Uhr gegeben hat. Nicht einmal eine zum Eierkochen. Aber jetzt hängt sie da. Zwischen den weißen Pilzen baumelt eine schwere, grob geschmiedete Eisenkette von der Zimmerdecke herab, an deren unterem Ende die Uhr hängt. Sie ist groß, mit einem weißen Zifferblatt und riesigen schwarzen Zeigern wie bei einer Bahnhofsuhr. Und sie scheint sogar zu gehen. Der Sekundenzeiger bewegt sich vorwärts, nicht zu langsam und auch nicht zu schnell, so weit sie das beurteilen kann. Punkt für Punkt. Schritt für Schritt.
Sie reißt den Blick los und sieht wieder zur Tür. Wo bleibt ihr Vater heute? Müsste er nicht längst zurück sein? Madame Bresson spuckt Blut und scheint ganz geduldig, und auch ihre Mutter liegt vollkommen ruhig da. Also setzt sie sich auf den Küchenboden, so, dass sie Madame Bresson nicht ansehen muss, und wartet. Der Boden ist kühl, doch die Kühle ist ihr nicht unangenehm, und sie fragt sich, ob dies vielleicht ein Indiz dafür sein könnte, dass das Fieber jetzt abklingt. Während sie wartet, beobachtetsie die Uhr, die leise hin und her schwingt. Um nicht wieder in den tückischen Nebel zu geraten, der mit Macht unter der geschlossenen Tür hindurch dringt, zählt sie die Sekunden mit, immer bis sechzig und dann wieder von vorn. Mal für Mal. Strich für Strich.
Doch Nicholas Bradley kommt nicht ...
Warum, fragt sie sich im Zählen, ohne die Tatsache als solche in Frage zu stellen, ist er eigentlich immer am Leben? Er müsste doch tot sein, ganz so wie Madame Bresson. Warum, in aller Welt, verlässt er die Küche stets lebend? Müsste er nicht dort liegen, dort am Boden, mit eingeschlagenem Schädel? So viel Blut konnte doch unmöglich von einer einzigen Person stammen!
Sie zählt und dreht sich dabei ganz vorsichtig nach ihrer Stiefmutter um. Aber ja, natürlich, dort sitzt sie! Am Herd, ganz wie immer. Sie blutet und starrt trübe ins Leere, so seelenlos wie die Puppen auf ihrem Nachtschrank. Oder sind ihre Puppen schon längst nicht mehr dort? Hat jemand sie mitgenommen, irgendwohin, wo sie sie nie mehr erreichen kann?
Sie kann es nicht sagen und zählt stattdessen weiter, den Blick nun wieder fest auf die Uhr gerichtet. Die langsam, aber sicher ablaufende Zeit.
Doch Nicholas Bradley kommt nicht, noch immer nicht.
In ihrem Rücken malt Mia ein
Weitere Kostenlose Bücher