Blut Von Deinem Blute
Händen der ehemaligen Hausdame hängen, und er überlegte, ob sie je verheiratet gewesen war. »Und dann hat sie tatsächlich Abfälle gegessen?«, fragte er ungläubig.
Seine Gastgeberin nickte. »In die Tonnen kamen die ganzen Essensreste aus dem Restaurant«, erklärte sie. »Da wird schon noch das eine oder andere Genießbare dabei gewesen sein.« Sie lehnte sich zurück. »Ist ihr natürlich mächtig peinlich gewesen, wie sie mich da plötzlich in der Tür stehen sah. Und danach war sie dann auch immer sehr freundlich zu mir!«
Eine Charakterschwäche, echote etwas in Leon, und noch immer hatte er das Gefühl, widersprechen zu müssen. Schon um seiner Schwester willen.
»Es ist das Haus, wissen Sie?«, sagte Bernadette Labraque mitten in die Stille, die sich zwischen ihnen breit gemacht hatte. »Es bringt Unglück.«
»Wie das?«
»Keine Ahnung. Aber es ist ganz und gar kein glückliches Haus. War's schon nicht, als der arme Pierre noch drin gewohnt hat.« Sie runzelte die Stirn. »Sein einziger Sohn ist gestorben, wie er noch keine acht Jahre alt war. Und dann Louisa, die Mutter der Mädchen: Selbstmord. Mit achtunddreißig Jahren!«
»Weiß man warum?«, hakte Leon nach.
Bernadette Labraque schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlichhat sie's einfach nicht mehr ausgehalten, mit einem Mann wie Nicholas Bradley verheiratet zu sein«, mutmaßte sie. »Es hat uns sowieso gewundert, dass sie sich ausgerechnet Nicholas ausgesucht hat, obwohl er natürlich eine ziemlich gute Partie war, wenn man's rein finanziell betrachtet.« Sie schürzte die Lippen. »Andererseits war er gesellschaftlich natürlich vollkommen außen vor. Schon aufgrund seiner Herkunft. Und dann gab's ja damals auch jede Menge Spekulationen über ihr Brautkleid ...«
Leon horchte auf. »Was war denn damit?«
»Na ja, es war cremeweiß.« Sie funkelte ihn aus ihren kurzsichtigen Augen listig an. »Und kurz vor der Trauung hat sich Louisa noch die Seele aus dem Leib gekotzt, das arme Ding. Das haben die Brautjungfern hinterher jedem erzählt, der es hören wollte. Und das waren eine ganze Menge Leute, wie Sie sich vielleicht vorstellen können.«
»Louisa Bradley war zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung also bereits schwanger«, resümierte Leon.
Bernadette Labraque zog bedeutungsvoll die Schultern hoch. »Oder unsere süße kleine Laura war ein Frühchen.«
Leon stutzte, als eine flüchtige Erinnerung in ihm aufblitzte. Etwas, das die ehemalige Hausdame gesagt hatte. Er versuchte, den Gedanken festzuhalten, doch es wollte ihm nicht gelingen. »Würden Sie es für möglich halten, dass jemand anderer als Nicholas Bradley der Vater des Kindes war?«
Wieder Achselzucken. »Also, ich kann nur sagen, dass Nicholas und Louisa in keiner Weise zueinander gepasst haben. Sie hat sich fürs Theater interessiert und für Musik und solche Dinge. Aber dafür hatte er nicht das geringste Verständnis, der alte Banause.«
»Die Ehe war nicht glücklich?«
»Louisa hat wirklich ihr Bestes getan«, erklärte die Alte warm. »Aber irgendwann hatte sie einfach keine Kraft mehr und bekam Depressionen.« Ihre gichtigen Finger angelten nach dem Limonadenkrug. »Sie fing an, sich in ihrem Zimmer einzuschließen, und am Ende hat sie dann niemanden mehr an sich rangelassen.«
»Hatte sie vielleicht vor irgendetwas Angst?«
»Na ja, jetzt, wo Sie das sagen ...« Bernadette Labraque zögerte. »Ein paar von den Mädchen behaupteten damals, sie habe direkt den Verfolgungswahn gehabt.«
Leon dachte an Jacqueline Bresson. Fresssucht, Depressionen, Verfolgungswahn – die Frauen an Nicholas Bradleys Seite schienen es wahrlich nicht leicht gehabt zu haben.
»Hatten Sie den Eindruck, dass Mrs. Bradleys Ehemann der Grund für ihre Ängste war?«, fragte er geradeheraus.
»Konkret aufgefallen ist mir da nichts, könnte ich nicht sagen«, entgegnete Bernadette Labraque. »Nur, dass Louisa sehr ungern mit ihm allein war. Zum Schluss bestand sie fast immer darauf, eins von den Mädchen um sich zu haben. Oder Cora.«
»Sie meinen Miss Dubois?«
Sie nickte. »Louisa und sie waren alte Schulfreundinnen.«
Leon rief sich das reizvolle Gesicht der Frau in Erinnerung, die er am Vorabend in der Bar des Beau Rivage kennengelernt hatte. Eine Frau mit Mut und Verstand, zweifelsohne. Und darüber hinaus Lauras Patentante ...
»Ist Nicholas Bradley diese Freundschaft recht gewesen?«
Die Augen seiner Gastgeberin blitzten verschmitzt. »Naja, welchem Mann ist es schon recht, wenn
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