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Blut Von Deinem Blute

Titel: Blut Von Deinem Blute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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fürchte, das Meer als solches übersteigt meine Vorstellungskraft«, sagte Leon.
    »Natürlich«, nickte sie. »Es gemahnt uns beständig daran, dass es irgendwo in uns einen Bereich gibt, der sich dem Zugriff des Verstandes entzieht. Genau das ist es ja, was die Sache so spannend macht.« Sie schloss die Augen. »Weit draußen im Meer ist das Wasser so blau wie die Blätter der schönsten Kornblume«, zitierte sie, »und so klar wie das reinste Glas.«
    »Hans Christian Andersen?«, fragte Leon.
    Ein strahlendes Lachen. Fast wie ein Kind. »Sie kennen es?«
    »Die Geschichte von der kleinen Meerjungfrau war eines der ersten Stücke, in denen ich meinen Vater auf der Bühne gesehen habe«, erklärte Leon. »Sie spielten es als Weihnachtsmärchen, und mein Vater war der Erzähler. Er saß die ganze Zeit dicht an der Rampe und hatte ein riesiges, ledergebundenes Buch auf den Knien.«
    Mia Bradleys Zeigefinger zeichnete ein imaginäres Muster auf den Felsen. »Verstehen Sie sich gut mit Ihrem Vater?«
    »Er ist tot.«
    »Warum?«
    Leon sah wieder aufs Meer. Die Frage verwunderte ihn. »Er war krank.«
    Sie nickte, ohne aufzublicken. »Und haben Sie sich gut mit ihm verstanden, als er noch gelebt hat?«
    Leon dachte an das ungepflegte, übernächtigte Gesicht, das ihm von Zeit zu Zeit beim Frühstück gegenüber gesessenhatte. Und an die schier unfassbare Zauberkraft, mit der sein Vater Texte von Shakespeare oder Goethe rezitiert hatte. »Manchmal.«
    Mia Bradley streckte die Beine von sich. Ihre Jeans waren durchnässt bis zum Oberschenkel, aber das schien sie nicht einmal zu bemerken. Dann wurde ihr Blick plötzlich scharf, und sie fragte: »Sind Sie wirklich Wissenschaftler?«
    Leon bejahte.
    Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn durchdringend. »Okay, dann verraten Sie mir, in welchem Jahr sich William der Eroberer die britischen Inseln einverleibt hat.«
    Leon lächelte. »1566.«
    »So was fällt unter Allgemeinbildung, wenn man nicht total verblödet ist«, befand Mia Bradley mit einem geringschätzigen Lächeln. »Aber ...« Sie schob die Unterlippe vor, während sie nachdachte. »Wissen Sie auch, seit wann auf diesem schönen Eiland der so überaus freundliche Einkommenssteuersatz von zwanzig Prozent gilt?«
    »Seit 1959«, antwortete Leon geduldig.
    »Das bedeutet nicht mehr, als dass Sie einen guten Reiseführer gelesen haben, bevor Sie herkamen.« Sie zog die Stirn in Falten. »Na schön, noch eine Chance: Welcher britische Monarch unterzeichnete die bis heute gültige Grand Charter, in der nicht nur die Selbstverwaltung der Kanalinseln, sondern auch deren eigene Rechtsprechung festgeschrieben ist?«
    Leon betrachtete ihr Haar, das im milden Licht des Spätnachmittags wie Bernstein funkelte, und wieder dachte er, dass sie schön sein könnte, wenn sie es denn wollte. »Ich bin kein Experte für Großbritannien«, erklärte er, undMia Bradley lachte höhnisch auf, überzeugt, dass sie ihn in der Tasche hatte. »Aber wenn mich nicht alles täuscht, müsste das Königin Elizabeth die Erste gewesen sein. Wobei in dieser Charta natürlich nur jene Kompetenzen bestätigt wurden, die den Channel Islands bereits dreihundertfünfzig Jahre vorher von John Lackland zugesichert worden waren, der wahrlich allen Grund hatte, den Toads dankbar zu sein, nachdem sie ihn weiterhin als Lehnsherrn anerkannten, obwohl er die Normandie an seinen französischen Königskollegen Philipp August II. abtreten musste.« Er hielt inne und bedachte Mia Bradley mit einem triumphierenden Lächeln.
    Sie zögerte einen Augenblick. Dann lächelte sie auch. »Okay«, brummte sie, »von mir aus sind Sie tatsächlich Historiker. Aber erzählen Sie mir nicht, dass Sie sich für ehemalige Arbeitslager oder KZ-Außenstellen oder irgendwelche bescheuerten Bunkeranlagen interessieren, mit denen Ihre Landsleute hier die Landschaft verschandelt haben.«
    »Militärgeschichte und Befestigungsarchitektur gehören nicht unbedingt zu meinen Spezialgebieten.«
    Sie grinste. »Ginny denkt, dass Sie sich für den Mord an meinem Vater interessieren. Stimmt das?«
    Leon spürte, wie er blass wurde. »Warum sollte ich?«
    »Tja, sehen Sie«, in ihre weiche Stimme mischte sich ein gefährlicher Unterton, »genau das habe ich mich auch gefragt.«
    »Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
    Wenn du mit dem Rücken zur Wand stehst, gehst du am besten zum Angriff über. Eins der vielen Dinge, die er von Kevin gelernt hatte ...
    Doch Mia Bradley hütete

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