Blut Von Deinem Blute
Bild nach dem anderen. Und sie zählt und zählt. Immer bis sechzig und dann wieder von vorn. Als sie gerade wieder einmal bei vierunddreißig ist, fällt ihr plötzlich der Schatten ein. Der kopflose Schatten hinter der Tür. Sie reißt ihren Blick vom Sekundenzeiger los und sieht nach der Wand, die schonhalb im Nebel liegt. Doch auch der Schatten ist heute nicht da.
Das Licht wird schwächer.
Sie träumt nicht mehr.
Freitag, 23. August
1
»Mein Gott, ich dachte schon, du wachst überhaupt nicht mehr auf!«
Als Laura die Augen aufschlug, lehnte Mia an der Fensterbank. Hinter der ungeputzten Scheibe strahlte die Sonne so hell, dass Laura von ihrer Schwester eigentlich nur einen Umriss wahrnahm. Einen Schatten. So wie damals, als Madame Bresson plötzlich im Türrahmen gestanden hatte.
Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, sich ein wenig aufzurichten.
»Mach bloß vorsichtig, sonst fällst du mir gleich wieder ins Koma!«
Die Farbe ihrer Stimme verriet Laura nicht, ob sie lachte oder ernst sprach. »Wie lange war ...?« Sie schluckte. Ihre Kehle fühlte sich an, als habe sie jemand mit Sand bestäubt und anschließend mit einem Reibeisen bearbeitet.
»Von den letzten sechsunddreißig Stunden hast du wenig mitbekommen«, beantwortete Mia die unvollendete Frage bereitwillig.
»Ich ...« Laura hob eine Hand an den Kopf. Hinter ihrer Stirn schien eine offene Wunde zu pochen, und ihre Arme schmerzten, als habe sie tonnenschwere Lasten bewegt. »Ich muss mich erkältet haben«, stammelte sie.
Mia nickte. »Du hattest ziemlich hohes Fieber.«
»Tatsächlich?« Laura blinzelte sich ein paar Tränen der Anstrengung aus den Wimpern und versuchte, die Bilder scharf zu stellen. Doch das Gesicht ihrer Schwester blieb ein vager, fleischfarbener Fleck. »Daran ... kann ich mich gar nicht erinnern.«
Mia stieß sich vom Fenster ab und kam langsam auf sie zu. »Aber, sag mal«, begann sie, und etwas an ihrem Ton ließ Laura aufhorchen, »warum wolltest du eigentlich keine Tabletten nehmen?«
Laura erstarrte, während dumpfe, unklare Erinnerungsfetzen durch ihren Kopf jagten. Eine Hand. Ein Glas voller Wasser – oder war es Alkohol gewesen? – und auf dem Grund ein weißlicher Bodensatz wie von aufgelösten Tabletten. »Was?«, stieß sie hervor. »Wovon sprichst du?«
»Von dem Grippemittel, das ich dir geben wollte. Du hast dich dagegen gewehrt wie ein Berserker.«
Instinktiv legte Laura sich eine Hand auf den Bauch. Hatte sie sich verraten? Wo waren ihre Erinnerungen? Warum wusste sie nicht mehr, dass ihre Schwester ihr ein Medikament hatte geben wollen?
»Und was ist dann ...« Ihre Kehle war noch immer wie zugeschnürt. »Ich meine ... Habe ich etwas geschluckt?«
»Nein.«
»Bestimmt nicht?« Sie dachte an das Baby, das sie nicht haben wollte, und für einen flüchtigen Moment hatte sie das Gefühl, das Fieber kehre zurück. »Bist du ganz sicher?«
»Du denkst doch, dass ich dich vergiften will, stimmt's?« Mia grinste. »Nein, oh bitte nein! Lass mich!«, ahmte sie die Stimme ihrer Schwester nach, wobei sie mit ihren schwieligen Männerhänden wild durch die Luft fuchtelte. »Ich will das nicht! Nein, nein!«
Laura verzog den Mund. Wie sie hoffte, zu einem Lächeln. »Da habe ich wohl schlecht geträumt.«
Die Miene ihrer Schwester verriet Zweifel. »Passiert dir so was öfter?«
»Du meinst, dass ich schlecht träume?«
In die Zweifel goss sich ein Hauch von Süffisanz. »Das auch.«
»Was denn sonst?«, hakte Laura nach, weil sie das Gefühl hatte, dass ihre Schwester Verdacht schöpfen würde, wenn sie es nicht tat.
Doch Mia ging nicht darauf ein. »Ich weiß wirklich nicht, was ich an mir habe, dass die Leute in meiner Gegenwart beständig um ihr Leben fürchten«, erklärte sie stattdessen in übertrieben beleidigtem Ton. »Aus irgendeinem unerfindlichen Grund denken alle an Gift, wenn sie mich sehen. Du denkst an Gift. Ginny denkt an Gift.« Sie kam noch näher. »Sogar die verdammten Meerschweinchen sehen mich manchmal so argwöhnisch an.«
Laura zuckte unwillkürlich zusammen. Unter ihrer linken Fußsohle schien etwas zu pochen. Sie zog das Bein an, aber das Gefühl ließ nicht nach. Im Gegenteil, es verstärkte sich noch.
Ihre Schwester machte unterdessen den Eindruck, sich vorzüglich zu amüsieren. »Ginny, Cora, Hasen, Kinder ...« Sie kicherte leise vor sich hin. »Alle Welt hat eine Scheißangst vor mir.«
Mein Handy!, dachte Laura, während ihre Augen
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