Blut Von Deinem Blute
stellte sie sachlich fest, »und du weißt doch selbst, wie geizig euer Vater gewesen ist.«
6
»Was ist mit dem Motiv?«, fragte Leon. »Warum, glauben Sie, sind Nicholas Bradley und seine Frau getötet worden?«
Archer legte die Fingerspitzen gegeneinander, sodass seine Marmorhände eine Raute bildeten. »Die weitaus entscheidendere Frage schien mir immer zu sein, warum sie auf eine solche Art und Weise getötet worden sind«, entgegnete er. »Es gab damals eine Menge Spekulationen, wie Sie vielleicht wissen. Konkurrenz unter den verschiedenen Beherbergungsbetrieben, Mafia, solche Geschichten.« Ermachte eine wegwerfende Geste. »Aber dieser Mord hatte etwas so Brutales, Blutiges, dass ich eigentlich sofort an ein persönliches Motiv gedacht habe.«
So ähnlich hat Bernadette Labraque auch argumentiert, dachte Leon.
»Natürlich haben wir Bradleys gesamtes Umfeld akribisch abgeklopft«, fuhr der pensionierte Kriminalbeamte fort. »Der Mann war geizig, er war misstrauisch, und trotzdem haben ihn alle, mit denen wir gesprochen haben, als fairen und zuverlässigen Geschäftspartner bezeichnet.« Er starrte ins Leere. »Falls er außerhalb seines eigenen Haushaltes tatsächlich Feinde hatte, haben wir sie zumindest nicht gefunden.«
Bradley, dachte Leon. Archer spricht fast nur über ihn. Aber ist er wirklich das Ziel dieses mysteriösen Doppelmords gewesen? Er allein? Leon sah wieder aus dem Fenster, wo das Unwetter unaufhaltsam näher kam. Was war mit Jacqueline Bresson?
»Von Beginn an deutete alles auf Mia hin«, bemerkte Archer wie zu sich selbst. »Sie war zur fraglichen Zeit im Haus. Sie hat von der Tat profitiert. Sie hat absolut nichts gesagt oder getan, das zur Erhellung der ganzen Geschichte beigetragen hätte. Und eine Heerschar von Zeugen hat übereinstimmend ausgesagt, dass sie ihre Stiefmutter gehasst hat.«
»Und welchen Eindruck hatten Sie?«, fragte Leon, weil ihn die Antwort tatsächlich brennend interessierte.
Archer öffnete den obersten Kopf seines Hemdes, das einzige Zugeständnis an die Wärme im Zimmer, die immer drückender wurde. »Ja«, sagte er, »ich denke schon, dass Mia Bradley ihre Stiefmutter hasste. Und wissen Sie ...« Ermachte eine nachdenkliche Pause. »Ich habe mich immer gefragt, warum sie dann ausgerechnet mit ihr so vergleichsweise pfleglich umgegangen sein sollte.«
Er hat recht, durchfuhr es Leon. »Sie meinen, die bei Jacqueline Bresson im Vergleich zu ihrem Mann eher geringe Gewalteinwirkung spricht gegen Mia als Täterin?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Archer ausweichend. »Ehrlich, ich habe keine Ahnung, was ich glauben soll. Normalerweise entwickelt man mit der Zeit gewisse Instinkte in meinem Job. Und ich gebe zu, dass Mia Bradley nie meine erste Wahl war, wenn es um die Frage nach dem Täter ging.« Er hielt inne und schien nicht zu wissen, wie er ausdrücken sollte, was er fühlte. »Vielleicht passte das alles einfach ein bisschen zu gut zusammen.«
»Sie meinen, die Wahrheit liegt oft nicht so klar auf der Hand?«
Er schmunzelte. »Ja, so ähnlich.« Dann schwieg er abermals. Ein langes, raumgreifendes Schweigen. »Es gab ein paar Dinge, die wir nie klären konnten. Wo sie das Messer gelassen haben soll, zum Beispiel. Oder warum sie am Tatort nicht schon in der Nacht aufgeräumt hat.« Archer sah hoch. »Immerhin hätte sie mehr als acht Stunden Zeit gehabt.«
Acht Stunden, echote etwas tief in Leon. Es ist immer wieder die Zeit, die die entscheidende Rolle spielt.
»Acht Stunden«, wiederholte in diesem Augenblick auch Archer. »Das ist bemerkenswert lange für eine Kurzschlussreaktion, nicht wahr?«
Ja, dachte Leon. Falls es eine war ...
»Und dann war da natürlich noch die Sache mit dem Geld.« Der pensionierte Polizist sah nach seinen Pferden.Vielleicht war ihm eingefallen, dass er sie in den Stall bringen musste.
»Sie meinen das Geld, das Nicholas Bradley ein paar Tage vor dem Mord aus dem Hotelsafe genommen hat?«, hakte Leon nach.
Archer nickte. »Wir haben nie herausfinden können, was Bradley damit vorhatte.« Er hob die Hände, wie um Verzeihung bittend. »Sein Geschäftsführer sagte aus, dass Bradley ihn am Dienstag vor der Tat darüber informiert habe, dass er sich etwas Bargeld für private Zwecke aus dem Safe genommen habe.«
Leon stutzte. »Er sprach ausdrücklich von privaten Zwecken?«
Der pensionierte Beamte bejahte. »Es gab sogar eine entsprechende Quittung. Sie war von Bradley selbst ausgestellt und belief sich
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