Blut Von Deinem Blute
mit allem umgegangen«, setzte Archer hinzu. »Zeigte kaum mal eine Regung.«
»Aber sie war nicht zu Hause, als die Morde geschahen, oder?«, fragte Leon, obwohl sie beide die Antwort kannten. Aber er sah sich durch die fast körperlich spürbare Ablehnung des pensionierten Polizisten genötigt, etwas Entlastendes zu Lauras Gunsten vorzubringen.
Das Streben nach Objektivität hat als oberster Grundsatz des Geschichtswissenschaftlers dessen Handeln zu bestimmen.
»Nein, sie war nicht im Haus«, räumte Archer ein. »Sie hat im Haus ihrer Tante übernachtet, die natürlich Stein und Bein schwor, dass ihr geliebtes Patenkind die ganze Zeit über brav in seinem Bettchen gelegen hat.« Sein Ton war noch immer absolut sachlich. Archer war definitiv kein Mann, der sich in seinem Urteil von persönlichen Sympathien oder Antipathien leiten ließ – etwas, das Leon eher alarmierte als beruhigte. »Neben demselben gewacht hat sie aber natürlich nicht«, fuhr der pensionierte Beamte fort. »Was im Klartext heißt, dass Laura Bradley von dem Moment an, in dem sie sich zur Nachtruhe ins Gästezimmerbegeben hat, bis zum nächsten Morgen faktisch unbeaufsichtigt war.«
»Und wann ist sie zu Bett gegangen?«
»Gegen 21 Uhr«, antwortete Archer. »Und das ist verdammt früh für eine Neunzehnjährige, auch wenn sie steif und fest behauptet hat, sich schon den ganzen Tag nicht besonders wohl gefühlt zu haben.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Irgendwas stimmte da nicht«, sagte er. »Sie wurde eigenartig unsicher, wann immer wir sie danach fragten.«
»Wäre es theoretisch möglich, dass die Morde an Nicholas Bradley und Jacqueline Bresson von zwei verschiedenen Personen begangen wurden?«, unterbrach ihn Leon, der es einfach nicht mehr aushielt.
Archer bedachte ihn mit einem Blick, den er nicht deuten konnte. »Tja, auf den Gedanken bin ich damals auch gekommen«, sagte er. »Ich gebe zu, dass ich eine Zeit lang annahm, Jacqueline Bresson sei von ihrem Mann getötet worden und er selbst anschließend von einer dritten Person.«
»Gab es denn Hinweise darauf, dass die Ehe der beiden in einer Krise steckte?«
»Ach, wissen Sie«, seufzte Archer, »die Dinge zwischen zwei Menschen liegen selten so, wie sie nach außen hin erscheinen.« Er machte eine kurze Pause. Dann sagte er: »Sie ist nicht besonders gut behandelt worden in diesem Haus, daran war nicht zu rütteln. Auch wenn er sie nie geschlagen oder ihr sonst wie Gewalt angetan hat.«
Leon dachte daran, was Bernadette Labraque über Lauras Mutter erzählt hatte. Über die Zeit vor ihrem Selbstmord. Ein Mann, dachte er, zwei Ehen und zwei kaputteFrauen. Bedeutete das, dass Nicholas Bradley ein Sadist gewesen war?
»Hatte Julien Bresson, abgesehen von einem fehlenden finanziellen Motiv, damals eigentlich ein Alibi?«, wandte er sich wieder an den pensionierten Kriminalbeamten.
Doch Archer schien tief in Gedanken versunken. »Verzeihen Sie«, sagte er, als ihm bewusst wurde, dass sein Gast ihn ansah.
Leon wiederholte seine Frage, und Archer verneinte. »Der Junge ist am fraglichen Abend von verschiedenen Personen in der Spielbank und anschließend noch in ein oder zwei Pubs gesehen worden, ohne dass sich jemand auf eine genaue Zeit festlegen wollte.«
»Also käme er, genau wie die beiden Mädchen, als Täter in Betracht«, schloss Leon.
Der pensionierte Polizist nickte. »Aber ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, dass wir nie auch nur den geringsten Hinweis darauf gefunden haben, dass Jacqueline Bressons Mörder nicht auch Nicholas Bradley getötet hat«, sagte er. »Die geringere Wucht der Schläge bei Jacqueline Bresson kann ohne weiteres auch dadurch erklärt werden, dass der Mörder zu diesem Zeitpunkt noch nicht das richtige Maß gefunden hatte. Der Gerichtsmediziner nannte es Probeschläge.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Draußen auf der Koppel wurden die Pferde immer unruhiger. Aus den Augenwinkeln sah Leon, wie sie dicht am Zaun auf und ab liefen.
»Ich war mal dort, wissen Sie?«, sagte Archer unvermittelt. »Vor ein paar Jahren.«
»Auf der Insel?«
»Ich wollte sie sehen. Mia Bradley, meine ich.« Seineschmalen Lippen verzogen sich zu einem nachsichtigen Lächeln, von dem Leon nicht sicher war, ob es Archer selbst oder der Frau galt, über die er sprach. »Ich dachte, dass ich vielleicht auf diese Weise eine Antwort finden würde.«
»Und?«, fragte Leon. »Haben Sie eine gefunden?«
Archers Blick schweifte ab. Zum
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