Blut will Blut
Kleid, das Caroline im letzten Akt getragen hatte,
lag achtlos fallen gelassen auf dem Boden; ihr überdimensionaler Kosmetikkoffer
stand auf dem Regal. Abgesehen von ein paar verschmierten Kosmetiktüchern,
machte nichts seiner Besitzerin Schande. Alles war ordentlich eingeräumt,
verschlossen, abgewischt. Spraggue nahm ein großes Glas mit hellem
Gesichtspuder heraus, öffnete es, schnupperte. Bei dem Geruch rümpfte er sofort
die Nase: blumig, überreif, faul.
Er studierte Carolines Fotos,
ließ die Hände hinter die Rahmen gleiten. Caroline Ambrose erhielt den Tony
Award... verschiedene Stars, überschwengliche Widmungen... mit Darien, Arm in
Arm, er ohne das Grau in seinem Haar. Spraggue zögerte bei einem kleinen Bild
einer jüngeren Caroline in der Umarmung eines dunkelhäutigen, schnurrbärtigen
Latinos. Das dürfte dann de Renza sein, der ehemalige kolumbianische Gatte...
Nichts. Er konnte nichts
finden. Fünf vor sieben. Und immer noch nichts! Spraggue schloß die Augen,
lehnte sich gegen das Bord.
Wonach suchte er denn? Nach
etwas anderem, nach etwas Ungewöhnlichem. Er drückte die Fingerspitzen fest
gegen seine Schläfen. Vor zwei, drei Tagen war er in genau dieser Garderobe
gewesen. War jetzt irgend etwas anders? Er zog es wie eine schauspielerische
Übung durch. Fang mit dir selbst an: Was hatte er getragen? Ja. Er spürte den
noppigen Tweed der Jacke an seinen Handgelenken, die weiche Baumwolle des
cremefarbenen Hemdes. Was für Geräusche hatte er gehört? Leises Hämmern aus der
Schreinerei. Ja. Caroline ganz in Blau, ein seidiges, königsblaues Kleid, mit
Gürtel, und gefährlich hochhackige Pumps. Gerüche: der fast widerwärtig süße
Duft ihres Parfüms und...
Spraggue riß die Augen auf,
richtete den Lichtstrahl in alle Ecken des Raumes, knipste ihn aus. Schwaches
Sonnenlicht fiel durch den einen hohen Schlitz eines Fensters. Die Orchideen
waren nicht da.
Orchideen in einer Vase.
Orchideen in Carolines Haaren. Gestohlene Orchideen. Orchideen, die jeden Tag
neu geliefert wurden. Spraggue berührte die Innenseite der Vase mit seinen
Knöcheln. Trocken. Nirgendwo eine Schachtel. Auch unter dem Tisch keine
Schachtel eines Blumengeschäftes...
Aber er hatte eine Schachtel
gesehen, hatte sie erst vor wenigen Augenblicken gesehen, eine plötzliche Form
im Lichtkegel. Wo? In Langfords Garderobe? In Eddies? Im Büro? Nein. In dem
Raum neben Dariens Büro, dem Raum mit der Verbindungstür. Dort, auf dem
Schreibtisch...
Ein plötzliches Geräusch von
oben unterbrach Spraggues Überlegungen. Schritte halten schwer über die Decke.
Zu spät.
«Sieht alles in Ordnung aus»,
hörte er eine weit entfernte Stimme. «Aber seht wirklich richtig gründlich
nach. Mir gefällt dieser Wagen da hinten nicht.»
«Okay, Captain.»
Spraggue brauchte nicht den
Dienstgrad zu hören, um diese Stimme zu erkennen: Menlo.
Wieder Schritte. Sie
verschwanden nach oben, zu den Büros im ersten Stock. Plattfüße stampften durch
den Korridor: Menlo, der auf dem einzigen Weg vom Keller ins Erdgeschoß patrouillierte.
Einfach aus einer Garderobe im
Keller in ein Büro im ersten Stock gelangen und dann das Gebäude verlassen,
ohne dabei entdeckt zu werden. Klare Sache, Spraggue. Und wo du gerade schon
mal dabei bist, geh doch auch über Wasser.
Spraggue ging den Plan des
Theaters vor seinem geistigen Auge durch. Ein Treppenhaus vom Keller ins
Erdgeschoß. Ein weiteres Treppenhaus, etwa sechs Meter weiter einen geraden
Korridor hinunter, vom Erdgeschoß in den ersten Stock. Einen anderen Weg nach
oben gab es nicht.
Menlo konnte nicht den ganzen
Tag bleiben, würde keinen Mann für eine Observierung des Theaters vergeuden. Er
konnte sich verstecken, bis die Polizei zufrieden war, einfach warten, bis sie
wieder verschwanden.
Er schaute sich um. Aber nicht
in Carolines Garderobe. Oben stapften Menlos Schuhe auf und ab. Schnell und
ruhig schlich Spraggue den Korridor hinab, hielt die Luft an, als er an der
Treppe vorbeikam. Ziel: die Schreinerei. Voller Maschinen, ffolzstapeln,
geräumigen Schränken. Ein besserer Ort für ein Versteckspiel.
Er erkannte den Versenktisch,
schob sich, ohne lange nachzudenken, daran vorbei. Dann blieb er stehen, ein
kleines Lächeln spielte um seine Mundwinkel.
Der Versenktisch arbeitete
vollkommen lautlos, mußte es einfach. Mehrere Male trat er während des Stückes
ohne den Schutz von Musik in Aktion. Der Fahrstuhl konnte ihn ins Erdgeschoß
bringen. Und dann? Das würde sich zeigen.
Er
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