Blutberg - Kriminalroman
Stefán hielt sich ans Brummen und rührte weiter in seinem Becher. Der Unfall in Kárahnjúkar war die Hauptnachricht auf den Titelseiten der beiden Zeitungen, doch mehr, als bereits am
Abend vorher in den Rundfunk- und Fernsehnachrichten gesagt worden war, stand dort auch nicht. Trotzdem las Stefán beide Artikel so gründlich, wie es die Wollsocke, die ihm irgendjemand über den Kopf gezogen zu haben schien, gestattete.
»Gibt es etwas Neues über diesen Unfall?«, fragte Ragnhildur.
»Nein«, brummte Stefán. »Nichts Neues. Die Ursachen des Unfalls sind nicht bekannt und so weiter.«
»Das ist doch wohl nichts, was bei euch landet, oder?«
Stefán hörte endlich auf zu rühren und trank einen Schluck von dem zuckersüßen Kaffee. »Das glaube ich kaum. Damit muss sich das Arbeitsschutzamt befassen und natürlich unsere Kollegen im Osten. Die sind bestimmt schon allesamt da oben.« Er trank wieder einen Schluck Kaffee. »Vielleicht auch unser Erkennungsdienst, aber wir wohl kaum. Nicht, wenn das ein Unfall ist.«
Ragnhildur hob die Augenbrauen. »Was meinst du damit, wenn das ein Unfall ist?«
Stefán schüttelte den Kopf, bereute diese Geste aber unverzüglich. »Nichts. Es ist bloß …«
»Bloß was?«
»Ach, ich weiß nicht. Ich rede wahrscheinlich dummes Zeug.«
Ragnhildur sah ihn lange an, bevor sie die nächste Frage stellte. »Mehr Kaffee?«
»Ja, danke«, sagte Stefán, leerte seinen Becher und hielt ihn ihr hin. »Den brauch ich dringend.«
»Ich mach uns neuen«, sagte Ragnhildur.
»Gut. Erinnere mich bitte das nächste Mal daran, dass ich mich an Rotwein halte.«
»Meinst du so, wie ich es gestern Abend gemacht habe, als du unbedingt einen Whisky haben wolltest?«
»Ja, ungefähr so.«
Ragnhildur lächelte. »Mach ich. Aspirin?«
Stefán wollte schon zustimmend nicken, besann sich aber. »Nein, danke. Das geht schon vorüber.«
Jorges Rufen weckte Joaquim aus einem unruhigen Schlummer, und er drückte sofort auf den Notknopf beim Bett. Dann lehnte er sich zu seinem Freund hinüber, murmelte leise und beruhigend auf ihn ein und strich ihm mit einem feuchten Tuch über die Stirn, das die Krankenschwester bei ihrem letzten Besuch im Krankenzimmer auf dem Nachttisch zurückgelassen hatte. Jorge beruhigte sich bald wieder und war kurz vor dem Einschlafen, doch plötzlich öffnete er die Augen und schien hellwach zu sein. Als er Joaquim sah, versuchte er sofort zu sprechen, doch die Stimmbänder gaben nur ein heiseres Flüstern her, und die Worte kamen nur stoßweise. Dann verlor er wieder das Bewusstsein. In diesem Augenblick betrat die Krankenschwester das Zimmer und befahl Joaquim, hinauszugehen.
Kaum war er auf dem Flur, als noch eine Frau angerannt kam, sie war vom Scheitel bis zur Sohle grün gekleidet und verschwand in dem Zimmer. Kurze Zeit später tauchten zwei weiß gekleidete junge Männer auf, die ebenfalls zu Jorges Zimmer eilten. Joaquim kaute an seinen Nägeln und tigerte im Gang auf und ab, bis sich seine Sorge gegen die Angst durchsetzte, doch genau in dem Augenblick, als er die Tür aufmachte, kam ihm die ganze Truppe mit Jorges Bett im Schlepptau entgegen. Er blieb ihnen auf den Fersen, aber sie ließen ihn nicht in den Aufzug.
» Emergency «, sagte die grün gekleidete Frau, als sich die Aufzugtüren vor seiner Nase schlossen. Joaquim nahm den Lift daneben und drückte ebenfalls auf fünf.
Er traute sich nicht in den OP-Saal, sondern wartete draußen
vor der Tür. Als die grün gekleidete Frau eine halbe Stunde später herauskam, sich die Maske abriss, müde lächelte und ihm den aufgerichteten Daumen zeigte, hätte er sie am liebsten umarmt und geküsst, doch irgendetwas sagte ihm, dass so etwas in diesem Krankenhaus nicht gern gesehen war. Vielleicht sogar auch nicht in diesem Land. Stattdessen faltete er wie ein Kind die Hände zum Gebet, verneigte sich leicht, und erhielt zum Dank ein etwas lebhafteres Lächeln, bevor die Frau sich entfernte.
Erst nachdem sie Jorge aus dem OP-Raum herausgerollt, auf die Intensivstation geschoben und Joaquim klargemacht hatten, dass er dort nicht bleiben dürfe, hatte er Zeit, darüber nachzudenken, was Jorge ihm da gesagt hatte; er wägte die Wahrscheinlichkeit ab, ob das etwas anderes gewesen war als das Fiebergefasel eines Mannes, der zwischen Leben und Tod schwebte. Er kam bald zu dem Ergebnis, dass er das nicht entscheiden könne, und hielt einen jungen Assistenzarzt an, dessen gerötete Augen übermüdet
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