Blutberg - Kriminalroman
entgegnete Stefán, der sich Mühe geben musste, um sein antrainiertes Pokerface zu wahren. »Aber ist es nicht wahrscheinlicher, dass das hier eine Art - wie soll ich sagen - Dummejungenstreich ist? Irgendwelche Gymnasiasten, die sich vielleicht nicht über den Ernst der Dinge im Klaren sind, oder …«
»Denkbar ist das«, unterbrach ihn Svavar, »aber ich bin mir nicht sicher, ob es wahrscheinlich ist. Wir glauben es zumindest nicht.«
»Wir?«, echote Stefán.
»Wir, ja. Wir, die wir uns damit befasst haben«, sagte Svavar. »Wer das ist, spielt keine große Rolle«, beeilte er sich hinzuzufügen, als er Stefáns Gesichtsausdruck sah. »Die Hauptsache ist, dass uns beim gegenwärtigen Stand der Dinge keine Wahl bleibt, wir müssen das ernst nehmen.«
Stefán sah unzählige Möglichkeiten, wie man sich dem entziehen könnte, diese Briefe ernst zu nehmen, und verspürte das starke Bedürfnis, sie samt und sonders aufzulisten. Er ließ es aber dabei bewenden, sehr bedächtig und mit todernster Miene zu nicken. »Genau«, sagte er bedeutungsvoll, »und wie kommen wir da ins Bild?«
»Es versteht sich von selbst, dass angesichts dieser Situation die paar Leute im Osten nicht ausreichen. Es sind nicht genug, und sie haben auch viel zu wenig Erfahrung mit derartigen Ermittlungen, als dass es vertretbar wäre, ihnen die Angelegenheit zu überlassen. Deshalb wurden wir gebeten, ein Team in den Osten zu schicken. Nach dem augenblicklichen Einsatzplan scheint es mir am einfachsten zu sein, euch dort einzusetzen. Alle anderen stecken mehr oder weniger mittendrin in umfangreichen Ermittlungen, aber bei euch ist
es im Augenblick wohl so, dass alles, womit ihr euch befasst, entweder aufgeschoben oder von anderen übernommen werden könnte, oder nicht?«
Stefán überlegte. Árni war praktisch fast fertig mit dem Körperverletzungsdelikt im Gaukur, hatte aber noch nicht mit der Massenschlägerei auf dem Frakkastígur angefangen, und die beiden Anzeigen wegen Vergewaltigung, die er und Katrín bearbeitet hatten, waren bereits beim Staatsanwalt. Andere Fälle bei Katrín befanden sich quasi in einem Patt, und bei denen, die sie in der letzten Woche in Angriff genommen hatte, war sie noch gar nicht so weit gekommen, dass es große Verzögerungen geben würde, wenn jemand anderes sie übernähme. Ähnliches galt für Guðni, der zudem in einer Sache ermittelte, bei der es nach Stefáns Meinung vielleicht sogar sehr gut wäre, wenn er etwas Distanz dazu bekäme. Die Beschwerden wegen seiner Vorgehensweise in dem Fall deuteten jedenfalls darauf hin, dass es nicht schaden würde. Und sein eigener Schreibtisch war leerer, als er seit langem gewesen war.
»Ja«, sagte er zögernd, »das stimmt wahrscheinlich.« Er nahm seine Kappe ab und kratzte sich im Nacken. »Und wie sieht es aus: Bekomme ich jetzt den fünften Mann, wenn die Sache so dringlich ist?«
Svavar schüttelte rasch und resolut den Kopf. »Nein, das ist alles noch in der Schwebe, uns fehlt nicht nur Geld, sondern auch der geeignete Mann, das weißt du selber.«
»Aber werden für diesen Fall nicht Sondermittel bereitgestellt? Meiner Meinung nach waren wir uns doch einig, dass Þorsteinn der …«
»Þorsteinn ist überhaupt nicht mehr im Bild.«
Stefáns buschige Brauen hoben sich. »Wieso nicht?«
»So ist es nun einmal. Im Übrigen wird ein fünfter Mann mit dir in den Osten fliegen und auch ein sechster, und zwar
aus der Abteilung für Internationale Zusammenarbeit.« Svavar wedelte mit den Drohbriefen: »Deswegen.«
Stefán beschloss, dass es an der Zeit war zu ächzen, und tat es. Svavar überhörte das geflissentlich. »In einer Viertelstunde ist Besprechung oben im Sitzungsraum. Mit dem Boss und mit Leuten vom IKA. Und noch anderen. Es wird nicht lange dauern, maximal eine halbe Stunde, dort bekommst du alle weiteren Informationen. Nutz die Zeit bis dahin und ruf deine Leute an, damit sie ihre Koffer packen können. Ihr fliegt mit der Abendmaschine.«
Er stand auf, die Besprechung war beendet. Stefán machte keine Anstalten, sich zu erheben.
»Wer von der Abteilung für internationale Zusammenarbeit?«, fragte er.
Svavar räusperte sich, und als er endlich antwortete, sah er alle möglichen Dinge an, nur nicht Stefán. »Es … sie schicken Friðrik.«
»Friðrik?«
»Ja, Friðrik. Ich habe protestiert und sie gebeten, jemand anderen zu finden, aber das wurde abgelehnt.« Es war Svavar anzuhören und anzusehen, dass er sich schwer vor den Kopf
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