Blutberg - Kriminalroman
versuchen sollten, etwas aus den Schichtverteilungslisten von der National Power Company, Impregilo und den Subunternehmern herauszulesen. Der ältere und schläfrigere schien sich gerade durchzusetzen, als die Tür aufgestoßen wurde und ein eiskalter Windstoß von draußen sämtliche losen Blätter auf der Schreibtischplatte durch die Luft wirbelte.
»Dealer«, sagte Lárus, als die Tür wieder hinter ihm ins Schloss gefallen war. Er lehnte sich keuchend und schnaufend mit dem Rücken gegen sie.
»Was?«, fragte der ältere Polizist, dessen altmodische Nickelbrille kaum noch Halt auf der rosa verschnupften Nase fand, weil er sich so weit über die Tischplatte vorgebeugt hatte. Er hieß Steinþór und war um die Mitte etwas füllig geworden, wirkte aber ansonsten einigermaßen fit.
»Wovon redest du eigentlich?«, fragte Auðunn, der jüngere
Polizist. Er trug ebenfalls eine Brille und hatte eine hohe Stirn, war aber lang und dünn. Keiner von beiden machte Anstalten, die Papiere aufzusammeln, die überall verstreut lagen.
»Sollte es sich tatsächlich um Mord handeln, wie viele behaupten«, erklärte Lárus, »dann glaube ich, dass da höchstwahrscheinlich Dealer dahinterstecken.«
»Was sagst du da?«, fragte Steinþór.
»Ich hab mir einfach mal ein paar Gedanken darüber gemacht, weshalb Menschen andere Menschen umbringen«, sagte er achselzuckend, während er sich den Schnee abklopfte, so gut es ging. »Meistens sind das doch irgendwelche zugedröhnten oder sturzbesoffenen Blödmänner, die keine Kontrolle mehr über sich haben, aber wenn nicht - wenn nicht, dann würde ich auf Dealer tippen. Denkt doch bloß an den Fall in Neskaupstaður im letzten Jahr. Die Leiche war vollgestopft mit Drogen.«
Die Polizisten nickten. Das klang sehr vernünftig in ihren Ohren. Von allen Orten der Welt hatte man ausgerechnet im Hafen von Neskaupstaður die Leiche eines litauischen Kuriers gefunden. Da lag es doch auf der Hand, daraus den Schluss zu ziehen, dass die Drogen in seinen Eingeweiden für Kárahnjúkar bestimmt waren, darüber waren sich alle auf dem Polizeirevier seinerzeit einig gewesen. Sie wussten auch, dass sie nicht die Einzigen waren, die so dachten, und dass auch bei denjenigen, die mit den Ermittlungen betraut waren, dieser Gedanke anfänglich im Vordergrund gestanden hatte. Im Grunde genommen war diese Theorie nie vollständig ausgeschlossen worden, auch wenn einige anscheinend inzwischen glaubten, es besser zu wissen. Überdies hatten sie seit langem den Verdacht gehabt, dass Drogen unterschiedlicher Art hier auf dem Kraftwerkgelände im Umlauf waren. Sie waren sich sogar ihrer Sache ziemlich sicher, auch wenn es ihnen nie gelungen war, Beweise dafür zu erbringen. Nicht
nur einmal, sondern mehrmals waren sie hierhergekommen, um nach Drogen zu fahnden, und hatten sogar einen Spürhund dabeigehabt; manchmal aufgrund von Hinweisen, die sie erhalten hatten, doch einige Male waren sie auch unangekündigt aufgetaucht. Sie hatten aber nie mehr als das ein oder andere Gramm Haschisch bei irgendwelchen armen Schluckern gefunden, die daraufhin ohne Umschweife in ihre Heimatländer zurückexpediert wurden, und zwar ohne Strafanzeigen oder andere Formalitäten, um sich die damit verbundenen Umstände und die Negativpropaganda zu ersparen. Sie hatten das seltsam gefunden, sogar außerordentlich seltsam, wenn nicht sogar mysteriös, wie Steinþór sich einmal ausgedrückt hatte.
»Schön und gut«, sagte Steinþór, »nehmen wir also an, dass es Drogenhändler gewesen sind. Aber weshalb? Weshalb haben sie diese Leute umgebracht? Ingenieure, Informatiker, Geologen …«
»Und Bjössi«, sagte Lárus. »Vergesst Bjössi nicht, Björn Egilsson«, fügte er erklärend hinzu. »Wisst ihr nicht, wer das war? Er war unser Sicherheitsbeauftragter, er hat mit mir zusammengearbeitet. Und mit Ásmundur, der sich erhängt hat.«
»Ach ja, richtig«, sagte Steinþór. »Den habe ich einige Male getroffen. War er auch unter den Toten?« Lárus nickte mit seinem geschniegelten Kopf. »Mein Gott«, fuhr Steinþór kopfschüttelnd fort, »das war mir noch gar nicht klar. Ein guter Mann.« Er nickte bekräftigend, bevor er fortfuhr. »Ein guter Mann. Schade, dass er tot ist. Was war mit ihm?«
Lárus leckte sich über die schmalen Lippen, bevor er darauf antwortete. Es galt, seine Worte sehr sorgfältig zu wählen, um Missverständnisse zu vermeiden. Solche Polizisten fühlten sich allzu schnell auf den Schlips getreten.
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