Bluteis: Thriller (German Edition)
Schüler leicht nachvollziehen konnte. Es war vollkommen glasklar, dass die Welt, in die sie bald entlassen werden sollten, ganz nach diesen logischen mathematischen Regeln aufgebaut werden sollte. Denn die Welt, die am großen Krieg zugrunde gegangen war, wie es Kisi berichtete, hatte nicht nach mathematischen Regeln gelebt. Es war nun an Natalija und ihren sieben Mitschülern, diese Regeln in die Welt zu bringen und für ihre Einhaltung zu sorgen. Das predigte Kisi immer und immer wieder. Sie wären die sechs Urväter und Urmütter der neuen Menschheit, die die Welt in die nächsten Jahrhunderttausende nach den Regeln der Vernunft und der Menschlichkeit führen sollten.
»Ich habe euch erwählt, weil ihr die Intelligentesten und Fähigsten unter den Menschen wart, die ich vorgefunden habe«, hatte Kisi den Schülern erklärt.
Wie alles, was diese Frau sagte, wurden diese Worte sofort zu einer unauslöschlichen Wahrheit in Natalijas Gehirn. Das war das Schöne am Zusammensein mit Kisi. Das Lernen fiel hier niemandem schwer. Man musste nur hören, was sie sagte, ihre Präsentationen und Zahlen sehen, und kannte sie auswendig. Als wäre das Gehirn ein leerer Massenspeicher, der nur darauf wartete, endlich mit unendlichen Datenmengen gefüllt zu werden.
Außerhalb des Unterrichts gab es keinen Kontakt zwischen den Schülerinnen und Schülern. Sie hätten sich auch wenig zu erzählen gehabt, denn sie wussten alle nur das, was ihnen Kisi seit Wochen beibrachte. Jeder von ihnen hatte seine eigene Geschichte längst vergessen. Die Elektroschocks waren zu Beginn hochfrequent und brachial gewesen, um die menschlichen Festplatten zu löschen. Mittlerweile wurden sie immer seltener und beinahe schon zärtlich eingesetzt, um das tagsüber Gelernte nachts zu zementieren. Hinzu kamen die verabreichten Psychopharmaka und die Hypnose. Die Erinnerungen der sechs Gefangenen waren innerhalb weniger Wochen gelöscht worden und wurden nach und nach mit frischem Wissen wieder aufgefüllt.
So verwunderte es Natalija auch nicht, dass sie mit so unterschiedlichen Menschen zu einer Gruppe zusammengeschweißt wurde. Und dass sie sich mit allen so gut verstand. Sie fand sie alle großartig, weil sie offenen Herzens und mit offenem Geist alles einsogen, was ihnen die allwissende Kisi vorstellte. Sie hatten alle einen Workshop gebucht, um bessere Manager zu werden, so hatte ihnen Kisi erzählt. Und sie habe aus ihnen die besten Manager der Welt gemacht. Sie glaubten es ohne jeden Zweifel. Wieso sollten sie daran zweifeln, dass sie etwas ganz Besonderes waren?
Donnerstag, 21. März, 10 Uhr 18
Zürich, Zentrale der Caisse Suisse
Sonndobler hatte die Fragen der Polizei knapp und präzise beantwortet. Niemand hatte einen Zweifel geäußert, dass seine Schilderung des »Unfallhergangs« nicht den Tatschen entspräche. Noch am Nachmittag war der Leichnam von Lex Kayser am Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich obduziert worden. Auch diese Sektion hatte nichts ergeben, das einen Verdacht auf Sonndobler geleitet hätte. Dass der Fall damit ausgestanden gewesen wäre, wäre zu schön gewesen. Bereits am frühen Abend hatte sich Geheimagent Beat Steiner für den Vormittag einen Termin geben lassen. Nun saß er auf ebenjenem Platz auf dem schwarzledernen Zweisitzer, auf dem gestern Ley Kayser seinen letzten Grunzer getan hatte. Das Facility-Management der Caisse Suisse hatte die Nacht über mit allen Regeln der Raumpflegekunst den gut handtuchgroßen Blutfleck aus der Auslegeware des Chefbüros shampooniert.
»Hier ist er gelegen?«, fragte der Spion den Bankenvorsteher, der neben ihm auf dem anderen Zweisitzer saß.
»Sie hätten Ihre Absätze im Blut, wenn es noch da wäre«, bestätigte Sonndobler.
Unwillkürlich zog selbst der hartgesottene Steiner die Beine an, wie Sonndobler befriedigt feststellte.
»Und hier, auf diese Ecke …?« Steiner strich mit der linken Hand über den Rahmen des Beistelltisches.
Sonndobler nickte nur.
»Ist echt eine fiese Spitze«, stellte Steiner fest. »Aber warum ist er denn gestürzt?«
»Sie kennen den Obduktionsbericht besser als ich. Schlaganfall wahrscheinlich. Jedenfalls steht er mir gegenüber, um sich zu verabschieden … ›Machen Sie’s gut, Albert, Sie werden das ganz sicher hinkriegen‹, sagt er noch, da zieht es ihm die Füße weg. Ging blitzschnell. Ich will ihn noch halten, aber da schlägt er auch schon auf …«
»Schrecklich, so was.« Steiner schüttelte langsam den
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