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Blutfeuer

Titel: Blutfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Vorndran
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kehren. Er hatte sich hierher zurückgezogen, lebte
von kleinen Einbrüchen und einem unbekannten Gönner, der ihm jahrelang Essen
und Wasserflaschen in den untersten Bartosch-Keller stellte. Aber auch das
hatte irgendwann aufgehört, bevor sie angefangen hatten, die Fabrik hier einzurichten.
Nach und nach hatte die Welt oben ihn dann vergessen. Er war schon so lange
hier. So lange, dass er seinen richtigen Namen bereits nicht mehr wusste.
Vielleicht wollte er ihn auch vergessen. Es gab nichts Positives, was er mit
ihm verbunden hätte. Es gab überhaupt wenig Positives in seinem Leben.
    Aber er war zäh, so schnell würde er sich nicht unterkriegen lassen.
Doch in letzter Zeit überwältigte ihn die Traurigkeit immer öfter. Langsam
machte sich auch das Alter bemerkbar. Er war nicht mehr der Jüngste. Zwar war
er immer noch sehr stark für seine Größe, aber das schnelle Laufen fiel ihm
inzwischen schwer. Wenn er rannte, kam er schnell außer Atem.
    Nach minutenlangem Schlurfen durch stockdunkle Gänge, deren
Windungen und Treppen er in- und auswendig kannte, bog er um eine letzte Ecke.
Trotzig stieß er seine kleine, kräftige Handfläche gegen das eichene Türblatt,
und die Tür öffnete sich in einem schnellen Schwung. Er betrat seine Kammer.
Eine große Höhle, die in den Sandstein gehauen war. Nachdem er den grauen
Umhang abgelegt hatte, schlurfte er sofort zu dem großen Regal neben seinem
Bett, wo er seine Schätze lagerte. Äxte, Schwerter, Messer und ordinäre
Knüppel. Allesamt angerostet und mehrfach repariert.
    »Gimli spielen«, murmelte er leise zu sich selbst. Dann zog er mit
geübtem Griff die »Franziska« aus dem Regal. Die alte fränkische Wurfaxt wog
schwer in seiner kleinen Hand, dann schleuderte er sie mit voller Kraft und
gekonnt in Richtung Tür. Mit einem trockenen »Pock« blieb sie in dem halben Baumstamm
stecken, der neben der Tür stand. Die zahlreichen Kerben und Einschnitte
zeugten vom Übungsfleiß des kleinen Werfers und seiner Zielgenauigkeit. Seit
vielen Jahren konnte der Baumstamm ein Lied von dem fanatischen Enthusiasmus
singen, mit dem ihn der Zwerg bearbeitete. Klingen jeder Größe und Fachrichtung
hatten sich schon in ihn gebohrt, am häufigsten allerdings die »Franziska«.
Offensichtlich Gimlis Lieblingsinstrument.
    Der Zwerg heftete seinen Blick mit einer unendlichen Traurigkeit auf
die Klinge der Axt, die nur wenige Meter weiter tief in dem Holz steckte. Sein
kümmerlicher Verstand reichte nicht aus, um zu begreifen, woher dieses Gefühl
stammte, das ihn so oft überfiel. Er wusste nur, dass es da war. Weil er seinen
Vater noch nie gesehen hatte? Weil ihn seine Mutter offensichtlich vergessen
hatte oder vergessen wollte? Weil er sein Leben ohne Sonne verbringen musste?
Er wusste es nicht, und er wollte es auch gar nicht wissen. Entschlossen
schlurfte er zu dem Eichenstamm und zog die »Franziska« heraus. Er würde eine
Weile spielen. Das würde helfen. Das hatte immer geholfen.
    Vincent Lacroix hob den Blick vom Mikroskop, bevor er die
Zahlenkolonnen auf dem Display des Computers erneut betrachtete. Dann schaute
er noch einmal in das Okular seines Mikroskops und lehnte sich anschließend mit
einem deutlichen Seufzen in seinen Stuhl zurück.
    Siebenstädter, der gerade mit der Zentrifuge beschäftigt war, drehte
den Kopf und meinte gelangweilt: »Na, Sie schweizerischer Wonnekloß, ist wieder
der Hunger im Anmarsch? Soll ich vielleicht ein Käsefondue bestellen?«
    Doch Lacroix’ Hirn arbeitete gerade auf Hochtouren, sodass er nicht
auf Siebenstädters Anzüglichkeit reagierte. Das, was seine Daten ihm gerade
mitteilten, war unglaublich. So unglaublich, dass es einfach nicht stimmen
konnte. Die Schlussfolgerung war jenseits dessen, was er je für möglich
gehalten hätte.
    »Siebenstädter, wissen Sie etwas über Kälteagglutinine?«, fragte er
urplötzlich.
    Der Rechtsmediziner, der merkte, dass sich bei seinem Kollegen
gerade etwas Erkenntnistechnisches tat, stellte die kleine Zentrifuge ab und
drehte sich zu ihm um. Kälteagglutinine? Vor vielen, vielen Jahren hatte er in
seinem Studium etwas darüber gehört, aber das war wahrscheinlich schon längst
nicht mehr der aktuelle Stand. Seinem nur noch sehr spröden Wissen nach hatte
dieser Begriff irgendetwas mit den roten Blutkörperchen zu tun. Aber sicher war
er sich nicht. Nun, der Herr Hämatologe, der ihm gegenübersaß, würde ihn
bestimmt gleich aufklären. »Nur sehr vage, Herr Kollege«, gab er

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