Blutfeuer
Das ist doch nicht wirklich dein
Ernst, oder, Franz?« Lagerfeld bekam feuchte Strümpfe bei dem Gedanken, sich
mit Egbert allein im Mondschein ins Gras setzen zu müssen.
»Jetzt stell dich nicht so an, Bernd. Du musst dem Kerlchen halt
rechtzeitig klarmachen, dass ihr nicht vom selben Ufer seid.« Er lächelte
spitzbübisch, bevor er leise hinzufügte: »Und wenn alles nichts hilft, Bernd,
bist du ja bewaffnet. Ich mach jetzt jedenfalls Feierabend, mein Lieber«, sagte
er, klopfte Lagerfeld noch mal aufmunternd auf die Schulter, nahm die
Nummernschilder seines Neubesitzes und ging zur Tür hinaus zu seinem Landrover.
Während Haderlein verschwand, verstand Kommissar Lagerfeld endlich
auch, was sein Chef mit dem delikaten Auftrag gemeint hatte.
Haderlein indes kam endlich etwas zur Ruhe, als er vor seinem
Landrover stand. »Hallo, Kumpel«, sagte er zu seinem neuen, edlen Wegbegleiter.
Im Auto sitzend, packte er das Paket des Dienststellenleiters aus und musste
lächeln. Eine Videokassette. Fidibus hatte also noch nicht einmal einen DVD -Spieler zu Hause! Was für ein Glück,
dass Haderlein noch ein altes Videogerät herumstehen hatte. Also würde er vor
dem Einschlafen noch einen oscargekrönten Film zu sehen kriegen.
»Der Herr der Ringe, Teil eins, die Gefährten«.
Na, dann bis gleich, Gimli, dachte Haderlein und startete den Wagen.
Gimli hatte die blauen Kunststofffässer mit den schwarzen Deckeln in
das Kellergewölbe gestapelt und beobachtete nun, wie Pechmann eine Kabeltrommel
im Dunkel des Ganges hinter ihnen entrollte. Die gleiche Prozedur hatten sie
bereits an anderer Stelle vollzogen. Gimli war durchgeschwitzt. In so ein Fass
gingen sechzig Liter rein, und jedes war mit dem weißlichen Pulver bis oben hin
gefüllt. Gimlis schlichter Verstand reichte nicht aus, um zu begreifen, was
genau der große Mann vorhatte, doch er wusste, dass dieser ihn wieder schlagen
würde, wenn er nicht das machte, was er von ihm verlangte. Der Zwerg mochte
Leonhard Pechmann nicht, aber er hatte sein Leben lang getan, was man ihm
aufgetragen hatte. Er hatte viel von ihm gelernt, und er war schnell und stark.
Das hatten diese Menschen, die ihn hatten fangen wollen, bereits zweimal
erfahren müssen. Aber hier war sein Zuhause, Gimlis Reich.
»So, und jetzt Abgang, du Zwerg!«, befahl Leonhard Pechmann
mürrisch, während er rückwärtsgehend weiter hektisch das Kabel entrollte.
»Kaputt machen?«, fragte Gimli neugierig. Er hatte keine Ahnung,
wofür diese Fässer gut waren, wollte es nach der anstrengenden Schlepperei aber
gern wissen.
Doch Pechmann hatte es eilig. »Jetzt verpiss dich endlich, Gimli.
Das hier geht dich nichts mehr an. Geh zurück in deine Kammer und warte, bis du
gerufen wirst. Ich habe zu tun.«
In dem von Falten durchzogenen Gesicht des Zwergs war keine Regung
zu erkennen, als er sich umdrehte und in den roh behauenen Gang hineinwackelte.
Emotionale Verletzungen störten ihn schon lange nicht mehr. Sein sensibles
Gemüt hatte man ihm in den Kinderjahren ausgetrieben. Während er den dunklen
Gang entlangschlurfte, zogen in blassen Schwarz-Weiß-Szenen die Teile seiner
Kindheit an ihm vorüber, an die er sich noch erinnern konnte oder wollte. Viele
waren es nicht. Das meiste hatte er verdrängt. Seine Mutter hatte ihn nur
großgezogen, weil er nun einmal da war, aber sie hatte sich für ihn geschämt.
Das hatte er bald begriffen. Er konnte sich nicht an eine einzige Gelegenheit
erinnern, wo er so etwas wie Liebe oder Zuneigung von ihr erfahren hatte. Ganz
zu schweigen von den Reaktionen der Umwelt auf sein missglücktes Äußeres. Nach
wenigen Tagen im Kindergarten hatte ihn seine Mutter zu Hause behalten. Es ging
einfach nicht. Es war offensichtlich, dass er geistig nicht der Hellste war,
dazu kamen noch seine kleine Gestalt und das abstoßende Gesicht. Ein
willkommenes Opfer für die Gemeinheiten von Kindern. Als Folge hatte sich eine
eigens angestellte Erzieherin um ihn gekümmert. Seinen Vater hatte er nie gesehen.
Irgendjemand hatte einmal erzählt, sein Vater verleugne ihn und wolle
keinesfalls mit ihm zusammen gesehen werden. Irgendwann hatte seine Mutter
seine Schwester auf die Welt gebracht. Sie war ein hübsches Kind gewesen.
Normal. Vom ersten Tag konnte er sehen, wie sehr seine Mutter sie umsorgte und
hätschelte. So kam es, dass er in dem Alter, in dem die meisten Jugendlichen
ihre ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht machten, sich entschloss,
seiner Familie den Rücken zu
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