Blutfeuer
männlich.
Name: Gisbert Bartosch.
Mutter: Hildegard
Bartosch.«
Dann übersprang er ein paar
Zeilen und fuhr weiter unten fort. »Die Entbindung schwierig, Probleme mit der
Nabelschnur, Sauerstoffzufuhr unterbrochen. Das Kind kam mit eindeutigen
Zeichen körperlicher Behinderungen auf die Welt.« Haderlein faltete den Zettel
zusammen und schaute Hildegard Kleinhenz erneut an.
Ihre Augen glänzten feucht,
die erste Träne rann ihr über das alte, faltige Gesicht. Ihr Blick war immer
noch entrückt.
Haderlein hielt ihr wieder
das Bild des bewusstlosen Gimli vor die Augen. »Das hier ist Ihr Sohn, Frau
Bartosch. Ihr Sohn Gisbert, den Sie aus welchen Gründen auch immer verstoßen
haben. Aber vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht war ihm diese Welt voller
Lieblosigkeit irgendwann so zuwider, dass er es aus eigenem Antrieb vorgezogen
hat, allein ein Leben unter der Erde zu führen. Ein Leben ohne Verletzungen,
weit weg von einer Mutter, die sich für ihn schämte.«
Die Lippen der alten Frau
zitterten, eine weitere Träne folgte dem unerbittlichen Gesetz der Schwerkraft.
»Eine Mutter, die als
angesehenes Mitglied der Bamberger Gesellschaft ein behindertes, kleinwüchsiges
Kind zur Welt gebracht hatte. Vom Vater gehasst, von der Nachkriegsgesellschaft
abgelehnt. Eine Mutter mit Schuldgefühlen, nicht das richtige Kind
geboren zu haben.« Haderlein schüttelte den Kopf. »Was haben Sie getan, Frau
Bartosch? Ihre viele Jahre später geborene Tochter Gerlinde hat wohl nie von
der Existenz ihres älteren Bruders erfahren, oder?«
Wieder zitterten die Lippen
der Frau, und sie musste sich mit den Händen auf der Bettkante abstützen.
Aber Haderlein war noch
nicht fertig. »Viele Menschen sind in den letzten Tagen gestorben, Frau
Bartosch. Auch Ihre Tochter. Ihr Sohn aber lebt noch. Ihr Sohn, der seine
kleine Nichte heldenhaft beschützt hat, ohne eine Ahnung zu haben, dass er ihr
Onkel ist. Nur Ihrem Sohn Gisbert verdankt es Theresa, dass sie noch lebt. Und
nun ringt er selbst mit dem Tod.«
Er stand wieder auf und ging
durchs Zimmer. Ruhig sprach er weiter. »Ich kann mir denken, wie das alles
damals gekommen ist, Frau Bartosch. Sie haben versucht, Ihre Firma vor dem
Untergang zu retten, aber dann sind Ihnen gewisse Umstände über den Kopf
gewachsen, die Geister, die Sie gerufen hatten, wurden Sie nicht wieder los.
Irgendwann waren Sie nicht mehr die Chefin, sondern nur noch die Ausgebootete.
Und bevor diese skrupellosen Verbrecher Sie als unnütz empfinden und mit dem
Gedanken spielen würden, Sie auf die Seite zu schaffen, haben Sie als
Selbstschutz beschlossen, dement zu werden, in der Hoffnung, dass die
Herrschaften dann von Ihrer Exekution absehen würden. Leider haben sie es dann
doch probiert und hätten es auch fast geschafft, aber sie hatten nicht damit
gerechnet, dass Sie sich natürlich mit den Produkten auskennen, die Ihre Firma
vor langer Zeit einmal selbst produziert hat.«
Er drehte sich zu ihr um und
sagte jetzt leise und sanft: »Sie haben Ihre Rolle sehr gut gespielt, Frau
Bartosch, aber es ist Zeit. Ich habe vorhin mit Theresa gesprochen. Sie haben
ihr zwei Tage vor ihrer Entführung noch seitenweise Märchen vorgelesen. Eine
reife Leistung für eine schwer Demenzkranke. Sie haben es Ihrer Enkelin
verboten weiterzuerzählen. Gott sei Dank hat sie sich mir gegenüber nicht daran
gehalten.« Haderlein setzte sich wieder auf den Stuhl. Er nahm den Beleg über
die Geburt von Gisbert und zerriss ihn vor den Augen von Hildegard Bartosch.
Als ihr Kopf herumfuhr, traf
ein klarer, hellwacher Blick Haderlein, auch wenn sie weiterhin nur still
weinte und nicht reden wollte.
»Ich werde Folgendes tun«,
sagte Haderlein nüchtern. »Wir haben unsere Schuldigen und den illegal produzierten
Stoff. Sie haben Ihr Lebenswerk und Ihre Tochter verloren. Über die
Schuldfrage, was das anbelangt, müssen Sie mit sich selbst ins Reine kommen.
Aber«, Haderlein ließ eine bedeutungsschwangere Pause, »aber es gibt noch zwei
Menschen auf dieser Welt, die ihre Mutter und ihre Großmutter brauchen. Die
beiden sind alles, was Ihnen von Ihrer Familie noch geblieben ist. Nutzen Sie
Ihre restlichen Lebensjahre und kümmern Sie sich um einen geschundenen Sohn und
um eine liebenswerte Enkelin. Sie werden gebraucht, Frau Bartosch.«
Haderlein stand auf. Die
Fotos ließ er auf dem Stuhl liegen, die zerrissene Bescheinigung verschwand in
seiner Tasche. Dann ging er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, und
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