Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
Halbkreis wieder zurück, so dass er den Berg im Rücken hatte und sein Blickwinkel es ihm erlaubte, Lucy aus seiner Deckung heraus zu beobachten. Sie war zu ihrem Auto zurückgegangen und sprach in ihr Mobiltelefon. Dabei lief sie im Kreis und hielt nach ihm Ausschau. Als ihr Blick eine Stelle unterhalb seines Versteckes streifte, stockte ihm der Atem. Aber sie entdeckte ihn nicht. Adam wartete, bis sie davongefahren war, und selbst dann verharrte er noch eine Weile in seinem Versteck. Jetzt hatte es wirklich angefangen zu schneien, der Schnee rieselte auf seine Schultern und gab ihm etwas Tarnung. Die Höhle lag auf der anderen Seite des Berges. Wenn er über die Forstwege ging, würde er sie erst bei Dunkelheit erreichen. Vielleicht hatte Lucy Kollegen mit Hunden mitgebracht, die ihn aufspüren sollten? Aber niemand kam. Er kletterte den kleinen Hang hinunter zu dem Friedhofsschuppen, hinter dem er den Pick-up geparkt hatte. Er sah auf die Uhr auf dem Armaturenbrett. Ihm blieb gerade noch genug Zeit zum Einkaufen bis zum Schulschluss. Er wusste, was er zu tun hatte. Er musste seine Familie beschützen. So wie Dad es tun würde.
Lucy ließ Adam laufen, auch wenn sie sich selbst schalt, während er davonpreschte und zwischen den Bäumen verschwand. Er wurde von der Polizei in Ohio gesucht und hatte den Bundesstaat gesetzeswidrig verlassen, indem er nach Pennsylvania zurückgekehrt war. Er hatte zugegeben, dass er ihr den Drohbrief geschrieben hatte, was landesweit als Straftat galt. Jenna würde richtig wütend sein. Als Lucy endlich einen schmalen, wagemutigen Balken auf dem Display ihres Mobiltelefons ausmachte, rief sie allerdings nicht die Postbeamtin an, deren Zielperson sie soeben hatte entwischen lassen. Nick begrüßte sie mit den Worten »Mein nächster Patient kommt gleich« – nicht aus Unhöflichkeit, sondern um ihr mitzuteilen, dass er nicht viel Zeit hatte.
»Adam hat den Brief geschrieben. Er wollte lediglich, dass ich nach New Hope komme. Es besteht keine Gefahr für dich oder Megan.«
»Und was ist mit dir? Warum wollte er, dass du nach New Hope kommst?«
Lucy wünschte, sie hätte auf alle Fragen eine Antwort. »Er dachte, es würde dann wieder wie beim letzten Mal sein – Pressezirkus und so weiter. Er sucht seinen Vater und hat geglaubt, dass er wegen des Wirbels in den Medien nach New Hope kommen würde.«
»Hört sich ganz schon durcheinander an, der Junge. Bist du dir sicher, dass er nicht gefährlich werden könnte?«
Ihr Blick suchte den Berghang ab, in der Hoffnung, zwischen den Baumstämmen irgendeine Bewegung auszumachen. Aber der Hang war zu weit entfernt, und es wuchsen dort einfach zu viele Bäume. Adam konnte sich überall verstecken.
»Ich glaube nicht, dass er eine Gefahr darstellt. Er ist einfach nur völlig verzweifelt. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen.«
»Komm nach Hause, Lucy. Du kannst nichts für ihn tun.«
Das Schneetreiben wurde dichter. Jetzt musste man es wirklich schon fast ernst nehmen.
»Ich weiß. Aber …«
»Du kannst die Welt nicht retten. Aber ich liebe dich dafür, dass du es immer wieder versuchst.«
Durchs Telefon hörte Lucy ein Klopfen. Nicks Patient.
»Ich muss auflegen. Bis heute Abend. Ich liebe dich.«
Sie steckte ihr Telefon wieder ein, stieg aber noch nicht in den Wagen. Etwas in ihr sträubte sich dagegen, Adam einfach so davonrennen zu lassen. Die Schneeflocken wirbelten um sie herum, und im Nu wurde die Welt noch grauer. Auf dem Hang rührte sich nichts. Vielleicht konnte sie tatsächlich nichts tun, um Adams Schmerzen zu lindern. Aber sie konnte ihr Wort halten und seinen Vater finden. Sie hoffte, dass Adam das wusste. Bei diesem Gedanken stieg sie endlich ins Auto und fuhr davon.
Als Adam fünf Jahre alt war – alt genug, um allein zu Hause zu sein – ging seine Mom mit Dad zum Fischen. Eine Zeitlang war Dad wirklich glücklich, und das machte Mom und Adam ebenfalls glücklich. Adam wollte seine Eltern begleiten, aber sie sperrten ihn allein im Haus ein und stellten sicher, dass er nicht hinauskonnte. Als sie wenige Tage später zurückkamen, lachten sie viel, berührten sich häufig und küssten sich stürmisch. Adam fühlte sich, als sei er von etwas Besonderem ausgeschlossen. Dann wurde seine Mutter sehr krank. Eines Abends zog Dad ihn aus dem Bett und sagte, dass Mom zu müde sei, Adam müsse an ihrer Stelle mitkommen. Adam war so aufgeregt, dass er sich die Schuhe verkehrt herum anzog und noch einmal von vorn anfangen
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