Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
würde, wenn Lucy das nächste Mal zu Hause anrief. Olivia zog ihre gefütterte Lederjacke glatt, spielte an den Silberringen, die sie an allen zehn Fingern trug, und musterte Lucy mit einem Seitenblick.
»Ich erinnere mich an Sie. Sie haben meine Mutter zum Weinen gebracht.«
»Das tut mir leid.«
»Braucht es nicht. Das war gut. Das erste Mal, dass ich sie weinen gesehen habe. Ist danach nicht mehr vorgekommen.«
Sie stieß erneut Luft aus. »Sie schlafwandelt irgendwie durchs Leben. Schluckt die Pillen, die ihr die Psychiater verschreiben, und weg ist sie. Ich meine, sie ist da, aber eben nicht wirklich. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich kann es mir vorstellen. Eine solche Reaktion ist nicht ungewöhnlich nach einem Trauma, wie es deine Mutter erlebt hat.«
Karen Harding schien allerdings ein Extremfall zu sein. Lucy fragte sich, ob da noch etwas anderes ihren Heilungsprozess lähmte.
»Es muss schwer für euch Kinder sein. Besonders, weil dein Vater so oft weg ist.«
Diesmal gab es einen bitteren Seufzer. »Der ist auch dann nicht bei uns, wenn er hier ist. Schläft mit einer Tussi vom Juniata College. Eine Erstsemesterin, die letzten Sommer in seinem Büro ein Praktikum gemacht hat. Das gibt ihm einen Grund, öfter zu uns zu kommen. Ansonsten würde er einfach in Washington D.C. bleiben. Es sei denn, er will uns schikanieren. Man würde meinen, dass es ein Typ, der Millionen von Dollar, tausende von Wählern und all die mächtigen Politiker in D.C. kontrolliert, nicht nötig hat, seine Frau und Kinder zu foltern, um sich gut zu fühlen, oder?«
»Wenn du foltern sagst …«
»Dann meine ich nichts, wogegen Sie oder das Gesetz etwas tun könnten.« Verachtung mischte sich in ihre Stimme. »Es gibt keine blauen Flecken, die Sie fotografieren könnten. Nichts, was Sie vor Gericht beweisen könnten.«
»Ich spreche nicht von Beweismitteln. Ich spreche von deinem kleinen Bruder. Warum glaubst du, dass er von zu Hause weggelaufen ist?«
Lucy hatte noch eine ganze Menge weiterer Fragen. Zum Beispiel, warum keiner der Erwachsenen Darrins Verschwinden gemeldet hatte. Aber sie ließ Olivia das Tempo bestimmen. Olivia rutschte auf dem Stuhl hin und her und starrte auf die Wand des Klassenzimmers, an der ein leuchtend rotes Notausgangsschild prangte.
»Darrin macht manchmal ins Bett. Das passiert aber nur, wenn Dad zu Hause ist. Er ist dann einfach zu nervös. Und es hilft sicher nicht, dass Dad ihn vor dem Schlafen noch einmal kontrolliert. Dad behauptet, er schickt Darrin zur Toilette, damit er nicht ins Bett macht, aber ich glaube, er will einfach sehen, ob es nicht schon passiert ist. Normalerweise schlüpfe ich vor Dad in Darrins Zimmer, für alle Fälle, und sehe selbst nach. Aber gestern Abend bin ich eingeschlafen.«
Sie blickte auf ihre Füße und stellte den Absatz eines Stiefels auf die Kappe des anderen.
»Und gestern hat euer Vater festgestellt, dass Darrin wieder ein Missgeschick passiert ist?«
Olivia nickte.
»Er hat ihn gezwungen, aufzustehen, das Bett abzuziehen und ist dann mit ihm nach unten gegangen, wo er ihn angebrüllt und in den Keller geschickt hat. Darrin hasst den Keller. Es ist so dunkel und unheimlich dort, das macht ihm wahnsinnige Angst. Dann hat er ihn dort eingeschlossen.«
Lucy bekam den Eindruck, dass Olivia noch etwas sagen wollte. Aber bevor sie weitersprach, kam Jenna ins Klassenzimmer gerannt.
»Ich habe was!«
»Sie haben ihn gefunden?« Olivia sprang auf.
»Nein. Aber wir wissen jetzt, wann sie verschwunden sind und in welche Richtung sie gingen.«
Jenna führte die beiden in das Büro, in dem sie das Videomaterial gesichtet hatte.
»Darrin und Marty. Sie sind gemeinsam los.«
Sie zeigte auf zwei kleine Jungen auf dem Computerbildschirm. Sie warteten an der Bushaltestelle, aber dann drehten sie sich plötzlich gleichzeitig um und rannten aus dem Bild.
»Das war um 14.47 Uhr. Und hier sehen wir sie noch einmal, um 14.52 Uhr.«
Jetzt sah man die beiden Kinder von hinten. Am Bildrand rannten sie über ein schneebedecktes Feld.
»Wo ist diese zweite Kamera angebracht?«, fragte Lucy den Schulleiter, der sich mittlerweile zu ihnen gesellt hatte.
»Am Lehrerparkplatz. Sie laufen über den Sportplatz.«
»Und wohin führt der Weg?«
»In den Wald«, sagte Olivia.
Sie fiel auf die Knie und umklammerte mit ihren Händen die Schreibtischkante, während sie auf das letzte Bild ihres kleinen Bruders sah.
»Dieser Wald ist endlos. Wir werden sie nie finden.
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