Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
jemand. Es handelte sich um einen großen dünnen Mann mit sandfarbenem Haar. Er trug Jeans und eine schwarze Lederjacke und ging so, als hätte man ihn nie ermahnt, sich aufrecht zu halten, sondern ihm beigebracht, sich nach vorn zu beugen und die Wirbelsäule zu krümmen, damit er kleiner und unauffälliger aussähe. Adam.
Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu, hielt dann aber inne. Sie wollte ihm etwas Zeit mit seiner Mom allein geben. Er tat, als habe er sie nicht gesehen, aber Lucy ging davon aus, dass er sie sehr wohl bemerkt hatte. Er beschleunigte leicht seinen Schritt, und als er an Marions Gedenkstein angekommen war, kniete er sich in den Schlamm und Dreck und wandte Lucy den Rücken zu. Selbst in dieser Haltung wirkte er größer, als Lucy erwartet hatte. Viel größer als sein Vater. Clint war etwas über eins fünfundsiebzig, hatte braunes Haar und braune Augen. Einer dieser Durchschnittstypen, die aus keiner Menge hervorstachen. Aber Adam war mit seinen vierzehn Jahren dem Durchschnitt schon längst entwachsen. Er war nicht wirklich hübsch, dafür war er zu hager und sah zu hungrig aus. Aber er war fast so groß wie Nick, knappe eins fünfundachtzig. Seine ganze Körperhaltung erinnerte an Gefängnisinsassen im Hochsicherheitstrakt: Deren Körper schienen auch in einem nie enden wollenden Zustand ängstlicher Erwartung eingefroren zu sein, als beugten sie sich ständig einer sie umgebenden Gefahr. Es war schwer zu glauben, dass das derselbe Junge sein sollte, mit dem sie es vor vier Jahren zu tun gehabt hatte.
Trotz der Kälte trug er keine Handschuhe und presste beide Handflächen gegen den Gedenkstein der Mutter. Lucy war froh, dass sie ihn gerade vorher noch gesäubert hatte. Adams Schultern fielen so weit nach vorn und er senkte seinen Kopf so weit nach unten, dass Lucy glaubte, er würde den Grabstein berühren. Der Wind pfiff vom Berg hinunter und blies direkt in Lucys offenen Parka. Sie fröstelte und schob ihre Hände tief in die Taschen. Sie hätte den Parka gerne zugemacht, denn hier war wohl keine Gefahr im Verzug, aber sie wollte nicht riskieren, dass sie mit der Bewegung Adam in seiner Andacht störte. Als ihre Fußzehen schon ganz taub vor Kälte waren, drehte er sich endlich zu ihr um.
»Agentin Guardino?«
Lucy blickte auf. Es überraschte sie, dass er sie mit ihrem Titel und Nachnamen ansprach. Für ihn war sie immer Lucy gewesen. Er richtete sich auf, schien aber zwischen dem Bedürfnis davonzurennen und dem Wunsch dazubleiben zu schwanken. Er verschränkte seine Finger vor dem Bauch. Verängstigt. Der Junge sah verängstigt aus. Mit wenigen Schritten überwand sie die Entfernung zwischen sich und Adam. Aber Adam bewegte sich gleichzeitig zur Seite und brachte so den Grabstein seiner Mutter zwischen sie.
»Hallo, Adam.«
»Sind Sie allein hier?«
»Ja.« Ein verzweifelter Ausdruck legte sich über sein Gesicht, und Lucy verstand, dass das nicht die Antwort war, die er erhofft hatte.
»Kann ich Sie etwas fragen?«
Seine Stimme klang verstockt. Er sah ihr nicht in die Augen. Kein Wunder. Das war nicht die Zeit für Floskeln wie: Hey, was geht? Als wir uns das letzte Mal sahen, hat ein Monster deine Mutter umgebracht und wir beide mussten beinahe auch dran glauben, weißt du noch?
Lucy wartete ab, um zu verstehen, worauf er hinauswollte.
»Selbstverständlich.«
»Sie haben mir einmal gesagt, dass Sie eine Tochter ungefähr in meinem Alter haben?«
»Megan. Sie ist vor kurzem dreizehn geworden.« Wenn Adam den Brief geschrieben hatte – und davon war Lucy nun mehr denn je überzeugt – dann wusste er das schon. Er zog seinen Atem so harsch ein, dass die Luft zwischen ihnen vibrierte.
»Gehen Sie nach Hause, Agentin Guardino. Gehen Sie zu Ihrer Tochter. Lassen Sie nicht zu, dass ihr etwas zustößt. Oder Ihnen beiden.«
Die letzten beiden Wörter brachen als halbes Schluchzen aus ihm hervor. Lucy konnte nicht anders. Sie ging um den Stein herum, nahm den mannshohen Teenager in ihre Arme und drückte ihn so fest, wie sie Megan drücken würde.
»Ist schon okay, Adam. Alles wird gut.«
Normalerweise machte Lucy nie Versprechungen, die sie nicht halten konnte. Zum Teufel noch mal, sie wusste noch nicht einmal, wie sie ein derartiges Versprechen überhaupt einhalten sollte. Aber die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, sie konnte nichts dagegen tun.
Es waren die falschen Worte. Adam rückte von ihr ab. Er rubbelte sich mit den Fingerknöcheln über die Wangen, den
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