Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
Aber der größte Teil war völlig bedeutungslos. Vor allem, wenn man sich den Gesamtzusammenhang besah und das von Lucy ursprünglich erstellte Täterprofil in Betracht zog. Diese Mühe hatte sich allerdings niemand gemacht. Man war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass ein ruchloser Mörder aus der Welt geschafft worden war.
Jenna war davon überzeugt, dass noch weitere Interessen im Spiel gewesen waren. Kurt Harding war ein machtvoller Lobbyist und tat sicher alles, damit die Geschichte sowie das Kapitel, das seine Frau betraf, unter Verschluss blieben. Außerdem musste sie sich eingestehen, dass die offizielle Version, der New-Hope-Mörder – ein Einzeltäter – sei vor vier Jahren in der Höhle ums Leben gekommen, durchaus wahr sein konnte. Man hatte keine neuen Einfälle. Keine Beweise. Keine Leichen. Keine Möglichkeit, den Mörder zu identifizieren, außer Lucys Beschreibung, und die traf auf die Hälfte der männlichen weißen Bevölkerung des ganzen Landes zu, und ein paar verschmierten Fingerabdrücken in einem Lieferwagen, der vom Parkplatz eines Einkaufzentrums in Hagerstown gestohlen worden war. Die Aussagen der Opfer waren vage und widersprüchlich. Und widerstrebend. Dazu kam, dass einige der Überlebenden, die man anhand von DNA-Spuren am Tatort identifiziert hatte, ihre Torturen nie angezeigt hatten. Aus Furcht, dem Wunsch, ihre Kinder zu beschützen, oder einfach nur, weil sie alles verdrängen wollten.
Zwei Frauen, die ihre Entführung und Gefangenschaft tatsächlich gemeldet hatten, wurden noch nicht einmal medizinisch untersucht, um eventuelle Spuren des Vergewaltigers zu finden, und die Ermittlungen verliefen in beiden Fällen schnell im Sande. Ein Polizeibeamter in Virginia machte einen Vermerk, weil ihm die Version eines Opfers seltsam und unglaubwürdig erschien. Er hielt sie für emotional verwirrt und riet ihr, sich psychologische Hilfe zu suchen. Der Mörder war über einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren aktiv gewesen. Und niemand hatte etwas Konkretes in der Hand, mit dem man ihn hätte identifizieren können. Kein Wunder, dass die Vorgesetzten so darauf versessen gewesen waren zu vertuschen, dass sie keinen blassen Schimmer hatten, um wen es sich handelte, und sich stattdessen darauf konzentriert hatten, die Nachricht vom Tod des Killers zu verbreiten. Zumindest hofften sie, dass er tot war.
Nachdem sie die Aussage des letzten Opfers gelesen hatte, fragte Jenna sich, ob Lucy vielleicht falsch liegen könnte. Vielleicht hatte der New-Hope-Mörder doch einen Komplizen gehabt. Es schien, als hätte ein einziger Mann das alles niemals allein stemmen können. Den anderen Überlebenden zufolge hatte der Täter seine Opfer in leerstehenden Häusern, Schiffscontainern und sogar in einer alten Kirche eingesperrt. Vielleicht hatte er das dramatische Ende seines New-Hope-Einsatzes nur inszeniert, um die Behörden von weiteren Nachforschungen abzuhalten? Oder er – der unbekannte Briefeschreiber – hatte seinen Partner unten in der Dunkelheit der Höhle umgebracht? Danach war der Täter einfach weitergezogen, hatte seinen Modus Operandi so weit verändert, dass er wieder durchs Raster fiel. Was im Klartext vermutlich bedeutete, dass es keine weiteren Überlebenden mehr geben würde. Nicht, wenn er von nun an seine Spuren vollkommen verwischen wollte. Keine Trophäen mehr.
Ihr sträubten sich die Nackenhaare, als sie sich daran erinnerte, wie Lucy gesagt hatte, dass der Mörder seine eigenen Kinder als Trophäen benutzte. Sie schüttelte das Gefühl ab. Das war lediglich der Luftzug gewesen, als Bob die Tür öffnete, um nach ihr zu sehen.
»Also, was meinen Sie?«, fragte er beim Eintreten. Als habe er angenommen, sie würde einen Blick auf die Akte werfen und umgehend alle unbeantworteten Fragen lösen. Sie wedelte mit ihrer Kaffeetasse – nun ja, mit Bobs Kaffeetasse – in der Luft und er schenkte ihr eilfertig nach. Jenna lehnte sich im Stuhl zurück. Theoretisch hatte Lucys alter Fall nichts mit Jennas laufendem Fall zu tun. Außer …
Wie fantastisch wäre das denn, wenn sie, Jenna, all diese unbeantworteten Fragen tatsächlich lösen würde? Wenn sie alle Spekulationen ein für alle Mal beseitigen könnte? Ihr Vorgesetzter würde begeistert sein. Die Bundespost galoppierte zur Rettung und hatte Erfolg, wo das FBI versagt hatte. Alles hing von ihrer Zielperson ab, von dem Komplizen, der Lucys Täter hatte umbringen können,
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