Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
musste. Dann verabschiedete er sich von Mom. Sie schien traurig, weil sie nicht mitkommen konnte, und trug ihm auf, alles zu machen, was Dad von ihm verlangte, und keine Fragen zu stellen. Er solle Dad stolz machen.
Adam wunderte sich, warum keine Angelruten im Lieferwagen lagen. Vielmehr war die Ladefläche mit Plastik ausgelegt, und im Angelkasten sah Adam eine Rolle Klebeband, ein Seil, Teppichmesser, eine Flasche Klebstoffentferner und Handschellen. Er wollte Dad fragen, was es damit auf sich hatte, aber sobald sie von der Garagenauffahrt fuhren, lümmelte Dad sich über das Lenkrad, seine Augen vor Aufregung weit aufgerissen, und sprach mit sich selbst, als sei Adam gar nicht anwesend. Adam hatte angenommen, sie würden zum See fahren, aber stattdessen überquerten sie den Berg und erreichten Altoona. Jetzt setzte sich Dad aufrecht hin, zog seine Kappe tiefer in die Stirn und richtete die Rückspiegel so ein, dass er alle Passanten auf der Straße im Blick hatte, während er auf und ab fuhr.
»Da ist ein guter Fisch«, murmelte er ab und zu. »Was hältst du von dem?«
Adam brauchte eine Weile, bis er verstand, dass Dad die Frauen auf der Straße meinte. Adam war bislang nur einmal in einer Stadt gewesen, damals, als Dad ihn mitgenommen hatte, um Mom im Krankenhaus zu besuchen, als sie zum ersten Mal krank wurde. In der Stadt herrschte eine andere Musik als in New Hope. Das Hupen der Autos klang wie eine Bassstimme, die das Lachen der Frauen kontrastierte, und das Klacken der Fußschritte hielt den Rhythmus der Melodie. Adam liebte diese prallen Akkorde, und doch erschreckte ihn ihre Fremdheit. Sie waren ganz anders als die Töne seiner Welt in New Hope: das Vogelgezwitscher, das Gezirpe der Grillen oder das Brummen der Mähdrescher und Traktoren.
Adam konnte sich noch gut an diese erste Stadtsymphonie und wie sie seinen Puls zum Rasen gebracht hatte erinnern. Und daran, wie Dad Jahre später Morgan von Adams erstem Angelausflug erzählt und sich darüber schlappgelacht hatte, was für ein Bauerntrampel Adam doch war, zu denken, dass dieses Provinznest eine richtige Stadt war. Zu dem Zeitpunkt befanden sie sich in Atlanta, was die ganze Geschichte für Dad und Morgan noch komischer machte.
»Der Fisch ist es«, sagte Dad schließlich und parkte den Lieferwagen am Straßenrand. »Spring raus und hol sie an Land.«
Adam rutschte auf seinem Sitz hin und her und beobachtete die junge Frau im Seitenspiegel. Sie ähnelte Mom sehr, nur war sie viel jünger. Dunkle Haare, schmale Hüften. Sie trug ein schwarzes, schulterfreies Top und sehr kurze Jeansshorts. Ihre Stöckelschuhe mussten drücken, denn ihre Freundinnen waren schon um die Ecke gebogen und die junge Frau war hinter ihnen zurückgeblieben, um sich gegen die Ziegelsteinmauer eines Lagerhauses zu lehnen.
»Was soll ich machen?«, fragte Adam. Er hasste es, mit Fremden reden zu müssen. Verdammt, er redete noch nicht einmal gerne mit Menschen, die er kannte. Er blieb lieber im Hintergrund und hielt seine Klappe. So vermied man Ärger.
»Raus mit dir aus dem Wagen. Sag ihr, du hast dich verlaufen und frage sie nett, ob du ihr Handy benutzen darfst.«
»Und wenn sie gar keins hat?«
»Egal. Aber wenn sie eins hat, dann nimmst du es und gibst es nicht mehr her, verstehst du mich? Und sorg dafür, dass sie dich ansieht und nicht zur Straße schaut.«
Dad besaß bereits ein Mobiltelefon und Adam verstand nicht, warum ihn das Telefon einer fremden Frau interessierte. Aber Dad hatte wieder diesen Ausdruck auf seinem Gesicht, der ihn so finster und gemein aussehen ließ. Adam kannte den Ausdruck. Dad bekam ihn immer, bevor er seinen Gürtel abnahm und Adam damit auspeitschte. Also sprang Adam aus dem Wagen und rannte zu der jungen Frau hinüber.
»Entschuldigen Sie, Miss?«, fragte er atemlos und angsterfüllt. Was, wenn er das vermasselte? »Miss, dürfte ich einmal Ihr Handy benutzen, bitte?«
»Verzieh dich, Junge«, sagte sie. »Ich bin beschäftigt.« Sie nestelte am Riemen ihrer Plateausandalen.
»Ähm, es ist aber dringend. Haben Sie wirklich kein Telefon?« Adam zappelte von einem Fuß auf den anderen. Er musste plötzlich ganz dringend pinkeln. »Bitte.«
»Was hast du denn?« Die junge Frau betrachtete ihn nun aufmerksamer. »Wie alt bist du überhaupt? Was treibst du hier so spät?«
»Ich hab mich verlaufen …«
Bevor Adam noch irgendetwas anderes sagen konnte, glitt der Lieferwagen hinter der Frau heran und Dad sprang heraus. Sie wühlte
Weitere Kostenlose Bücher