Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
kennengelernt hatte. Nur eine Maske nach der anderen.
»Das ist nicht sehr nett von dir.«
Jenna schnaubte verächtlich.
»Komm schon. Gleichberechtigung ist Schwachsinn, das weißt du ganz genau. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du noch nie deine weiblichen Reize eingesetzt hast, um zu bekommen, was du wolltest.«
»Als verdeckte Ermittlerin, vielleicht. Wenn es der Rolle entsprach. Aber sonst nicht.«
»Lass mich raten. Du hast deine Jugendliebe geheiratet und seitdem keinen anderen Typen auch nur angesehen.«
Jennas Stimme triefte vor Verachtung. Aber da war noch ein anderer Unterton. Neid? Lucy antwortete nicht. In erster Linie, weil Jenna recht hatte: Sie und Nick hatten sich in der Tat auf dem College kennengelernt; kein anderer Mann tat ihr so gut wie er.
»Ich hatte wohl einfach Glück«, sagte sie schließlich. »Habe einfach früh den richtigen Mann getroffen.«
»Du meinst, du hast dich früh mit einem Mann zufriedengegeben. Monogamie ist gegen die Natur des Menschen. Einer der Gründe, warum die Menschheit aussterben wird.«
»Weiß der arme Such-und-Bring-Bob, was du von ihm hältst?«
»Er ist ja kein Idiot. Ich bin sicher, er weiß, was Sache ist, ohne dass ich es ihm ins Gesicht sagen muss.«
Jenna blickte Lucy an.
»Ich bin keine Schlampe. Ich bin nur eine selbstbewusste Frau, die Männer auf alle möglichen Arten genießen kann.«
Damit wollte sie wohl andeuten, dass Lucy eine alte Schachtel war, altmodisch und aus einer anderen Zeit. Auch damit mochte sie recht haben. Lucy war gar nicht so weit entfernt von New Hope aufgewachsen, und ihre Kleinstadtmoral hatte sie nie richtig abgelegt, obwohl sie in Atlanta und D.C. gelebt hatte. Vielleicht brauchte sie aber auch einfach die Sicherheit, die Nick ihr bot, als Kontrast zu ihrer Arbeit, auf der sie immer wieder erleben musste, zu welchen Extremen – und zu welchem Schaden – der Sexualtrieb der Menschen führen konnte.
»Und ich bin nur eine selbstbewusste Frau, die ihren Mann auf alle möglichen Arten genießen kann.«
»Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied«, sagte Jenna herablassend. Da war er wieder, derselbe Unterton, und jetzt mischte sich noch etwas anderes dazu. Schmerz?
»Warum hast du dich freiwillig für unsere Abteilung gemeldet, Jenna?«
Lucy hatte Jennas Akte gelesen, sie kannte die offizielle Begründung für Jennas Interesse an der Bekämpfung von Sexualverbrechen. Aber sie wollte die Wahrheit hören, den Grund, der niemals in den Akten auftauchen würde. Jenna tat so, als konzentriere sie sich auf die völlig leere Straße vor ihnen.
»Haben diese Hinterwäldler noch nie etwas von Straßenschildern gehört?«
»Du meinst so etwas wie das Schild zur Twin-Oak-Wohnwagenanlage, an dem du gerade vorbeigefahren bist?«
Jenna fluchte, trat auf die Bremse und drehte um. Der Ford Taurus schlingerte, aber sie hatte ihn unter Kontrolle und bog auf den Schotterweg ab, der zu der Anlage führte.
»Bei dem Schnee konnte ich das nicht sehen. Welche Nummer?«
Lediglich ein paar einsame Flocken rieselten vom Himmel.
»Dreiundvierzig«, antwortete Lucy.
»Hast du Strohmeyer wiedergesehen, nachdem du …?« Jenna suchte hilflos nach Worten. Lucy verstand. Es war einfacher, über Zielpersonen und Tatorte zu reden als über reale Menschen aus Fleisch und Blut mit realen Schicksalen.
»Nachdem Adam und ich sie gerettet hatten? Nein.« Lucy hatte Rachel im Krankenhaus besuchen wollen, als ihre eigenen Wunden genäht worden waren, aber die junge Frau war schon entlassen worden.
»Der Nachbericht ist sehr lückenhaft. Sie wurde medizinisch versorgt und man hat auch eine gerichtsmedizinische Untersuchung durchgeführt, aber sie hat die Ergebnisse nicht freigegeben, weswegen wir keinen Zugriff darauf erhielten. Sie hat sich auch geweigert, irgendeine Aussage zu machen. Und man hatte ohnehin nichts zum Abgleich von Genproben.«
»Sieht so aus. Also, ich dachte, sie war Amische …«
»Mennonitin.«
»Macht das einen Unterschied?«
»Mennoniten benutzen Autos und Telefone.«
Nicht, dass der Zugang zu Technologie Rachels Familie irgendwie geholfen hätte. Lucy erinnerte sich an das erste Gespräch, als es Rachels Angehörigen dämmerte, dass ihre Tochter nicht einfach nur mit einem »Engländer« abgehauen war. Sie hielten sich alle eng umarmt, unterdrückten ihre Gefühle und verließen die Polizeiwache mit steifem Gang, Hände und Bibeln fest umklammert. Am Tag nach der Rettung sah Lucy, wie zwei Hilfssheriffs die
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