Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
richtige Ort. Oder das richtige Publikum.
»Wie geht es deiner Mutter?«
»Sie möchte mit Ihnen sprechen. Unter vier Augen.« Ihrer zweifelnden Miene nach zu urteilen, fand Olivia nicht, dass das eine gute Idee war.
»Mach dir keine Sorgen. Wenn wir dich brauchen, hole ich dich dazu.«
Olivia nickte zögerlich und führte Lucy zu den Räumen der Eltern. Es gab zwei große Schlafzimmer, dazwischen ein Badezimmer. Das überraschte Lucy. Dass Kurt Harding seiner Frau diese Zugeständnisse machte – oder dass er seine Bedürfnisse den ihren unterordnete.
Zwei Wände von Karens Zimmer waren vollständig verglast, was denselben seltsam bedrückenden Effekt wie unten im Wohnzimmer erzeugte. Als sei die offene Weite hinter den Fenstern nur eine dürftige Tarnung dafür, dass es sich bei dem Zimmer um eine Gefängniszelle handelte, aus der es keine Fluchtmöglichkeit gab. Die übrige Einrichtung erinnerte an die sterile Küche. Kahle Wände, ein minimalistisches Bett samt minimalistischer Kommode sowie zwei weiße Sessel, die unbequemer aussahen als der nackte Holzfußboden. Auf einem der weißen Sessel kauerte eine Frau, die ebenfalls ganz in Weiß gekleidet war: weißer Seidenpyjama, weißer Seidenbademantel. Sie saß im Dunkeln und starrte aus dem Fenster. Lucys Eintreten schien sie nicht zu registrieren.
»Mom«, sagte Olivia und legte ihrer Mutter einen weißen Wollschal um die Schultern. »Ich bin in meinem Zimmer, falls du mich brauchst.«
Karen Harding nickte, ohne ihre Tochter anzusehen. Lucy nahm ihr gegenüber Platz und wartete. Manchmal war es das Beste, die Dinge nicht zu überstürzen. Besonders wenn man jemanden vor sich hatte, der so zerbrechlich war wie Karen Harding. Ihre Haut war blass, sogar die Lippen waren bleich. Hätte damals die Freilassung von Karen nicht einen solchen Wirbel verursacht, wäre Lucy nie auf die Idee gekommen, weiter zu ermitteln. Aber als sie erfuhr, was Karen zugestoßen war, wusste sie einfach, dass es noch weitere Opfer geben musste. Die Art und Weise, wie der Täter Karen entführt und seine Identität verborgen gehalten hatte, war so ausgeklügelt gewesen, dass es sich nicht um das erste Mal handeln konnte.
Karen war nicht in einer Höhle gefangen gehalten worden. Sie beschrieb ihr Gefängnis als ein dreckiges Erdloch, eng wie ein Grab, zu kurz, um sich ausgestreckt hinlegen zu können und nicht tief genug, um aufrecht darin zu stehen. Aber in einer Wand gab es eine Tür, und die Decke war aus Holz. Ein solcher Bau hätte sich überall außerhalb einer Stadt befinden können. Man brauchte nur ein leeres Feld abseits der Wege und etwas Tarnung.
Einen Fehler allerdings beging der Täter doch. Er wurde unsachlich. Sein Drang, Karen und ihre Familie öffentlich zu erniedrigen, war stärker als sein Bedürfnis, im Geheimen zu operieren. Er hatte Karen während einer politischen Benefizveranstaltung entführt, auf der ihr Mann einen Ehrengast präsentieren sollte. Umgehend wurden Suchaktionen gestartet. Karens Foto prangte auf jedem Titelblatt. Jeder Fernsehsender brachte es in den Nachrichten, zuerst in D.C., schließlich landesweit. Aber man fand keine Spur. Erst acht Monate später lud der Täter Karen bei einer weiteren öffentlichen Veranstaltung, bei der ihr Mann zugegen war, ab. Ihre Haare waren geschoren, um ihren Hals lag ein Eisenring samt Kette. Und sie war im siebten Monat schwanger.
Wiederum zerrten die landesweiten Schlagzeilen die Familie ins Licht einer nicht enden wollenden Medienschlacht. Kurt Harding konnte weder das Kind ablehnen noch seine Frau verlassen – obwohl es Lucy so vorkam, als sei es ihm lieber gewesen, wenn sie verschwunden geblieben wäre. Stattdessen veranstaltete er ein großes Brimborium und baute ihr ein neues Zuhause in ihrem gemeinsamen Heimatort, dem »sichersten Ort in Amerika«. Unter dem Druck der Öffentlichkeit und dem einiger konservativer Politiker, mit denen er zusammenarbeitete, adoptierte er den Jungen. Offiziell, auf dem Papier, aber niemals mit seinem Herzen.
Die Ermittlungen versteiften sich erbittert darauf, seinen Hintergrund zu durchleuchten, um jemanden zu finden, der einen derartigen Groll gegen Harding hegte, dass er solche Anstrengungen unternehmen würde, um ihn zu erniedrigen. Sie fanden viele Leute, die nicht gut auf Harding zu sprechen waren, und stießen ebenfalls auf einige fragwürdige, wenn auch legale geschäftliche Transaktionen. Aber nichts und niemand ließ sich mit der Entführung in Verbindung
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