Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
nicht einmal mehr den Aufzug benutzen. Nicht allein, und erst recht nicht, wenn jemand dabei war.«
»Keine Ausweichmöglichkeiten. Was, wenn man überfallen wird?« Karen stimmte Lucy zu, als handelte es sich um die vernünftigste Sache der Welt.
»Aber die Treppen? Da ist man so bloßgestellt. Von oben, von unten, von vorn und von hinten. Man kann sich nicht umsehen, ohne zu stolpern und zu stürzen. Schließlich ging ich nach oben, indem ich mich mit dem Rücken die Wand entlangschob. Es dauerte ewig. Ich musste immer den Absatz über und unter mir kontrollieren, bevor ich den nächsten Schritt wagte. Aber die Panik hörte nicht auf. Egal, wie sehr ich mein Leben umgestaltete, um sie zu vermeiden.«
»Was haben Sie gemacht?«, fragte Karen atemlos.
Lucy zuckte mit den Achseln.
»Nichts. Ich habe einfach weitergelebt. Ich habe mich geweigert, dass die Angst mich isoliert, dass sie noch mehr von meinem Leben verschlingt. Ich musste das tun. Für meine Familie. Die Panik kommt immer noch zurück, aber jedes Mal überlebe ich es und erinnere mich bei der nächsten Attacke daran. Und eines Tages wird sie ganz verschwunden sein, aber bis dahin kann ich es nicht zulassen, dass sie mein Leben oder das meiner Familie aufsaugt. Ich werde es nicht zulassen.«
»So, wie Sie das sagen, klingt es so einfach.« Karen sank zurück in den Sessel und zog enttäuscht ihre Hand zurück.
»Es ist überhaupt nicht einfach. Es ist die verflucht schwierigste Sache, die ich jemals getan habe. Aber ich lasse mir keine andere Wahl.«
»Aber Sie sehen wenigstens eine Wahl.« Karen wandte ihr Gesicht der Dunkelheit zu. »Ich nicht. Ich habe keine Wahl mehr. Da ist nichts mehr. Nicht für mich.«
Vor lauter Verzweiflung klang ihre Stimme ganz flach, als wäre jedes einzelne Wort viel zu schwer zu ertragen.
»Aber vielleicht gibt es Hoffnung für meine Kinder. Werden Sie sich um sie kümmern, Lucy? Das tun, wozu ich nicht in der Lage bin? Ich bin so müde. So unendlich müde.«
Ihre Augenlider flatterten und fielen schließlich zu. Ihr Kopf sackte gegen die Rückenlehne des Sessels. Lucy wartete noch eine Weile, aber Karen bewegte sich nicht mehr. Dann hob sie den Schal vom Boden auf, drapierte ihn um Karen und verließ das Zimmer. Sie vergewisserte sich, dass die Tür offenstand und das Licht im Flur brannte. Karen war so schon von genug Dunkelheit umgeben. Lucy wollte, dass sie sah, dass es einen Ausweg gab. Olivia wartete draußen im Flur und sah besorgt aus.
»Ich bleibe hier und passe auf sie auf«, flüsterte sie. »Ich bin daran gewöhnt.«
Das waren wahrscheinlich die traurigsten Worte, die Lucy den ganzen Tag über gehört hatte. Sie wünschte, sie wären nie hiergeblieben. Sie wünschte, sie wären gar nicht erst nach New Hope gekommen. Das psychologische Gutachten wäre zehnmal einfacher zu ertragen gewesen als diese Trostlosigkeit. Außerdem wäre sie dann zu Hause bei ihrer Familie. Aber sie war es Adam schuldig. Und Karen. Erst recht den beiden vermissten Jungen. Sogar Olivia. Denn letzten Endes konnte sie das am besten: Kinder beschützen. Niemand hatte behauptet, dass es einfach werden würde.
Das Messer war ein SOG-Messer. Ausrangiertes Militärinventar, scharf wie eine Rasierklinge. Dieses Messer war zum Töten gedacht, nicht als Kinderspielzeug. Morgan ließ die Klinge einen Millimeter unter die Schale des Apfels gleiten und schälte sie in einem langen, durchgehenden Streifen ab.
»Ich glaube, Adam ist vielleicht ein Fisch geworden.« Sie biss in das Fruchtfleisch des Apfels und kaute bedächtig. Lange Zeit antwortete Clint nicht. Er hatte seinen Blick starr auf den zweispurigen Highway geheftet, der sich vor den Scheinwerfern erstreckte. Morgan fand es aufregend, wie er auch im Dunkeln, bei Schneefall in den Bergen, schneller fuhr als das Tempolimit erlaubte. Clint war schlauer als die Bürokraten in Pennsylvanias Verkehrsbehörde, die entschieden hatten, welche Geschwindigkeit als sicher zu gelten hatte. Das Leben mit Clint war so anders als die langweiligen, endlosen Weizenfelder, aus denen er Morgan geklaubt hatte. Sie wartete geduldig auf Clints Antwort, denn die würde alles ändern.
»Vielleicht«, erwiderte Clint endlich. »Wir werden sehen.« Er fuhr mit der Hand über Morgans Kopf – allerdings nicht in einer liebevollen Vater-Kind-Geste, sondern auf eine Art, die klarstellen sollte, wer hier der Boss war. »Aber ich werde sein Richter sein. Nicht du.«
Morgan nickte und Clint zog die Hand
Weitere Kostenlose Bücher