Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
bringen.
Wenn es dem Täter um Harding gegangen war, dann hatte er versagt. Mit der öffentlichen Sympathie, die ihm entgegenschlug, blühte Hardings Geschäft auf. Man bot ihm sogar an, für einen politischen Posten zu kandidieren. Er lehnte ab, mit der Begründung, er wolle seiner Familie die ganze Aufmerksamkeit ersparen. Lucy war überzeugt, dass seine Entscheidung mehr damit zu tun hatte, dass er als Inhaber eines öffentlichen Amtes seine Finanzen offenlegen müsste. Aber sie war eben Zynikerin. Die Vorstellung, dass jetzt ein weiteres Mitglied der Familie Harding verschwunden war, war niederschmetternd. Selbst, wenn Darrin einfach weggelaufen war. Schließlich durchbrach sie die Stille.
»Sie vermuten wahrscheinlich das Schlimmste.«
Karen zuckte zusammen, sagte aber nichts.
»Hat Sheriff Zeller Ihnen erklärt, dass Darrin aus eigenem Willen das Schulgelände verlassen hat? Zusammen mit Marty? Es gibt keine Hinweise, dass er dazu gezwungen oder mit Gewalt verschleppt wurde.«
Sie nickte. Ihre Finger zogen den Gürtel ihres Bademantels enger und enger zusammen, so dass Lucy sich fragte, ob sie überhaupt noch Luft bekam. Sie musterte Karen erneut. Trotz allem, was ihr widerfahren war, war sie noch immer eine schöne Frau. Aber ihre Schönheit hatte deutliche Risse bekommen. Lucy hoffe, dass Karen noch genug Kraft hatte, um gegen den Zusammenbruch anzukämpfen.
»Vielleicht möchten Sie mit mir an die Schule kommen? Martys Mom ist auch da, und der Sheriff leitet von dort aus die Suchmannschaften. Sie könnten den Leuten dabei helfen, sich ein besseres Bild von Darrin zu machen. Wie er tickt. Gerät er schnell in Panik? Ist er ein Kind, das eher weitergeht, wenn es sich verlaufen hat, oder würde er abwarten, bis Hilfe kommt?«
»Das kann ich nicht.« Karens Stimme war rau und kratzig. Lucy hatte das beinahe vergessen. Die acht Monate, in denen sie den Eisenring getragen hatte, die vielen Schreie und das Weinen hatten ihre Stimmbänder für immer beschädigt. Den elektrischen Viehtreiberstock, den man ihr in die Kehle gerammt hatte, nicht zu vergessen.
»Doch, Sie können das. Olivia wird an Ihrer Seite sein. Wir werden jemanden hierlassen, für den Fall, dass Darrin anruft oder zurückkommt.«
»Sie verstehen das nicht.« Karen fuhr so heftig auf, dass der Schal auf den Fußboden glitt.
»Ich gehe hier nicht weg. Ich kann nicht. Dieses Haus … ist alles, was ich kenne. Ich bin seit sechs Jahren nicht vor die Tür gegangen.«
Lucy hatte so etwas befürchtet, aber es schockierte sie dennoch, dass Karen es zugab. Dass sie selbst jetzt, wo das Leben ihres Sohnes in Gefahr war, nicht das Haus verlassen konnte, das ihr Mann gebaut hatte, um sie vor den Gefahren der Welt zu bewahren.
»Doch, ich verstehe das«, antwortete Lucy schließlich und hielt Karens Hand.
»Tun Sie das? Wirklich?«
Es klang, als weinte Karen. Aber die Augen, mit denen sie Lucy forschend anblickte, waren trocken und starr.
»Vor zwei Monaten hat ein Mann beinahe meine Tochter umgebracht. Und als ich versuchte, sie zu retten, hat er beinahe mich umgebracht. Ich hätte alles getan, was er verlangt hätte, wenn sie nur am Leben bliebe. Ich habe ihn getötet. Aber danach …« Lucy atmete angestrengt aus. Sie war im Begriff, etwas zu sagen, das sie nicht einmal Nick anvertraut hatte. Allerdings ging sie davon aus, dass Nick etwas vermutet hatte. Er war viel zu klug. Und weise genug, um nichts zu sagen, das ihr ohnehin nicht helfen konnte.
»Danach fiel es mir sehr schwer, sie das Haus verlassen und irgendwohin gehen zu lassen. Ich brachte sie zur Schule und blieb in meinem Wagen sitzen, beobachtete das Gebäude. Wenn es sein musste, den ganzen Tag lang. Mein Mann brachte mich schließlich dazu, damit aufzuhören. Es fiel mir unendlich schwer, aber ich ließ es sein. Dann allerdings kamen die Panikattacken. Sie überfielen mich an den normalsten Orten, es war so lächerlich. Im Supermarkt zum Beispiel. Irgendwann konnte ich nicht mehr aus dem Wagen steigen, um in den Laden zu gehen. Da waren zu viele Menschen, zu viele tote Winkel.«
Karen drückte Lucys Hand fester.
»Alles hallt und man kann nicht feststellen, aus welcher Richtung die Geräusche kommen.«
»Ganz genau. Und zur Arbeit – und ich arbeite in dem bestgesicherten Gebäude der Stadt – nun ja, also hinfahren konnte ich, aber ich musste immer früher und noch früher hinfahren, damit ich einen Parkplatz direkt neben dem Aufzug bekommen konnte. Und dann konnte ich noch
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