Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
Nicht bei diesem Wetter. Nicht lebend.«
Kapitel 21
Lucy überließ Jenna die Koordinierung der Such- und Rettungsaktion an der Schule und fuhr Olivia nach Hause. Sie mussten umgehend das Gelände durchkämmen, jetzt, da sie wussten, dass die beiden Kinder auf eigene Faust abgehauen waren. Außerdem mussten sie die Lehrerin und Klassenkameraden der Jungen sprechen. Vielleicht würden sie so auf einen Hinweis auf das mögliche Ziel der beiden stoßen.
Lucy würde bei Darrins Familie beginnen, und dann die ihr vom Schulleiter zur Verfügung gestellte Liste abarbeiten. Es würde eine lange Nacht werden, aber hoffentlich hatten Marty und Darrin ausreichend Spuren hinterlassen. Sie fühlte sich erleichtert. Normalerweise ging es in ihrem Job darum, in Windeseile einen Kinderschänder ausfindig zu machen. Das Schicksal der Kinder hing von ihrer Kombinationsgabe ab. Dieses Mal leistete sie nichts weiter als Zuarbeit, während die örtlichen Rettungskräfte gegen die widrigen Wetterbedingungen ankämpften. Und gegen die Zeit, ihren größten Feind.
»Darrin passiert doch nichts, oder?«, fragte Olivia, während sie über die lange Zufahrtsstraße fuhren, die sich zum Haus der Hardings hinaufschlängelte. »Immerhin ist Marty bei ihm. Marty ist echt schlau. Sein Dad war in der Armee, er ist immer mit ihm zum Camping gegangen und so.«
»Wir tun alles, was wir können. Es klingt, als seien Darrin und Marty ein gutes Team.«
»Ja. Sie passen aufeinander auf. Darrin ist eher ruhig und schüchtern, aber er ist ein lieber Junge. Er sagt nicht viel, aber er passt genau auf, immer. Und er liest. Er liest alles, was ihm unter die Finger kommt. Aber manchmal lebt er zu sehr in seiner Fantasiewelt.« Olivia atmete hörbar aus. »Genau wie Mom. Er hat sogar einen unsichtbaren Freund erfunden. Einen großen Bruder, der auf ihn aufpasst. Das wirft wohl kein allzu gutes Licht auf mich. Ich hätte mich mehr für ihn einsetzen sollen.«
»Du hast getan, was in deiner Macht stand.« Lucy wollte ihr eigentlich sagen, dass es die Aufgabe der Erwachsenen gewesen sei, Darrin zu beschützen. Aber sie blieb still, weil es sich so anhörte, als seien gerade die Erwachsenen das Problem. »Wenn das hier vorbei ist, gibt es jemanden, bei dem du eine Weile bleiben könntest? Damit deine Eltern ein bisschen Zeit für sich haben?«
Olivia sah Lucy an.
»Ohne Darrin gehe ich nirgendwohin. Ich habe mich informiert, wie ich auf eigenen Füßen stehen kann, um das Sorgerecht für ihn zu erhalten. Aber ich habe ja noch nicht mal einen Job.«
»Vielleicht könnten wir deiner Mutter etwas Hilfe besorgen? Damit du dich nicht ganz allein um alles kümmern musst.«
»Vielleicht.« Olivia klang skeptisch. »Wissen Sie, wovor ich am meisten Angst habe? Was passiert mit Darrin, wenn ich aufs College gehe und er allein bei unseren Eltern zurückbleibt? Ein Teil von mir glaubt, dass er einfach schlau genug war und abgehauen ist, bevor es zu spät war.«
Lucy hielt am Straßenrand.
»Olivia. Wenn es irgendetwas gibt, wegen dem dein Bruder nicht mit deinen Eltern zusammenleben sollte, dann musst du mir das sagen. Wenn man ihn oder dich misshandelt, dann kann ich das unterbinden. Glaube mir.«
Alles war still, außer dem laufenden Motor und den quietschenden Scheibenwischern, die den feuchten Schnee zur Seite schoben.
»Nichts, was Sie beweisen könnten. Sie fassen uns nie an.«
Sie schniefte. Ein einsamer Ton in der Dunkelheit des Wagens. »Vielleicht ist das genau ein Teil des Problems. Ich weiß es nicht.«
Sie blieben noch einen Moment sitzen, dann fuhr Lucy weiter. Nach wenigen Minuten erreichten sie das Haus. Alle Lichter brannten. Es sah aus wie ein Kreuzfahrtschiff, das aus einer Flanke des Berges herauswuchs. Sie parkte unterhalb des freischwebenden ersten Stocks. Dunkle Schatten lauerten überall. Olivia führte sie über die Treppe hinauf ins Haus.
»Ich bin wieder hier!«, rief sie. Ihre Stimme hallte durch die große, leere Küche aus Glas und Chrom. Im Haus war es warm, aber Lucy behielt ihre Jacke dennoch an. Sie konnte nicht aufhören zu zittern. Die Küche hatte große Fenster und befand sich am hinteren Ende des Hauses. Gläserne Schiebetüren führten auf eine kleine Terrasse. Direkt dahinter fing der Berg an. Es wirkte etwas klaustrophobisch und beunruhigend, fand Lucy. Sie verspürte den Drang, sich am Rand der Arbeitsplatte festzuhalten, um das Gleichgewicht zu bewahren. Es wirkte so, als drohte das gesamte Haus den Hang
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