Bluthochzeit in Prag
lief und einen langen, starken Ast suchte, an den sich der Abgestürzte klammern und mit dem er ihn nach oben ziehen konnte.
Pilny senkte den Kopf und starrte auf das Gestrüpp und den felsdurchsetzten Boden vor sich. Was werde ich gleich tun, dachte er. O mein Gott, ist das verzeihbar?
Ich werde einen Menschen töten müssen, ob ich es will oder nicht. Ich muß es, um einen Sender zu retten! Ist das Grund genug? Ist die Stimme der Freiheit ein Menschenleben wert? Ein unschuldiges Menschenleben …
Pilny wurde aus seinen verzweifelten Gedanken gerissen. Oben am Hang erschien wieder der junge Rotarmist, einen langen Ast in der Hand.
»Ich komme, Brüderchen!« rief er hinab. »Halte aus, nur noch ein paar Minuten! Ich steige hinunter –«
Pilny biß die Zähne aufeinander, daß sie knirschten. Er sah empor zu dem Russen, der sich anschickte, vorsichtig an den Büschen und den vom Sturm krumm gewachsenen Bäumen zu ihm hinabzuklettern.
Es war ein Junge aus den Weiten der kirgisischen Steppen. Ein kleiner, schmächtiger, breitgesichtiger Kerl, mit schwarzen Augen und einem Anflug von Bärtchen an der Oberlippe. Auf dem Rücken der Pferde war er aufgewachsen, war als Kind mit den Herden über die Steppen gejagt, hatte das Vieh zusammengetrieben und nachts an den Lagerfeuern der Jurten vor dem Spieß gesessen und ihn gedreht, den Spieß, an dem ein Hammelstück briet, dessen Duft sich vermischte mit der grandiosen Weite des Sternenhimmels. So hatte er gelebt, bis man ihn zum Militär holte, in eine Uniform steckte und ihm statt des Sattels einen Sitz in einem Panzer gab. Nun rollte er in diesem stählernen Ungeheuer durch die halbe Welt … aber abends, wenn die Sonne unterging und der Himmel goldorangen wurde, saß er oft da, stumm, den Kopf im Nacken, und dachte an die Steppe, an die Herden, an die Pferdchen, an die schwarzen Zöpfe von Marussja und an Baika, den struppigen Herdenhund. Dann bekam er blanke Augen vor Heimweh und wiegte wie im Takte einer unhörbaren Melodie den runden Kopf leicht hin und her.
Das alles war nun vorbei, eine unendlich ferne Vergangenheit … denn an diesem Tag im August – es war der 25. – kletterte Pjotr Lukanowitsch Tumjaschow, 22 Jahre alt, im von Menschen kaum betretenen Urwald des Böhmerwaldes einen Hang hinunter, um unten zu sterben –
»Noch ein paar Meter, Brüderchen!« rief er, »dann kannst du den Ast fassen. Halte dich gut fest … ich ziehe dich hoch! Aber du mußt mit den Füßen nachhelfen. Wie lange hängst du da schon?«
»Weiß ich es?« schrie Pilny zurück. Seine Stimme klang heiser und bebte. Die Erschütterung vor dem, was gleich geschehen mußte, erfüllte seinen ganzen Körper und ließ das Herz wild zucken. »Weit über eine Stunde ist's, Kamerad –«
Er starrte zu dem jungen Russen empor. Vielleicht drei Meter war dieser über ihm, klammerte sich an einen Stamm und schob den langen Ast hinunter. Karel sah seine Augen, schwarz und glänzend, er sah das breite, gelbe Gesicht, das Lächeln, glücklich, helfen zu können, er sah die vom Reiten krummen Beine, die sich nun gegen den Fels stemmten … dann war der Ast bei ihm, und aufstöhnend vor Grauen faßte Pilny zu.
»Hast du ihn?« rief Tumjaschow.
»Ja –«
»Faß ihn mit beiden Händen. Los! Ich ziehe. Tritt mit den Füßen nach … es wird gelingen, Brüderchen …«
»Es wird gelingen, Brüderchen –«, wiederholte Pilny dumpf.
Dann trat er nicht mit den Füßen nach, als er den Zug des Russen in seinen Händen spürte, sondern stemmte sich fest auf den Felsvorsprung, auf dem er stand und riß mit aller Kraft an dem Ast.
So plötzlich war das, so ruckartig kam der Zug, daß Tumjaschow oben das Gleichgewicht verlor, seine Füße fanden keinen Halt mehr, er wurde nach vorn, in den Abgrund gerissen, und ehe er merkte, daß es seine Rettung sein konnte, den Ast loszulassen, schwebte er bereits durch die Luft.
»Brüderchen!« brüllte er.
Dann fiel er, rollte über den steilen Hang hinab, vorbei an Pilny, der sich eng an die Erde preßte. Seine Hände griffen um sich, suchten Halt, krallten sich in die Felsvorsprünge, aber die Wucht des Falles riß ihn mit. Wie ein Stein fiel er in den schwabbenden Sumpf, und während er noch erstaunt feststellte, daß er wie auf eine Gummimatte gefallen war und Gott ihn beschützt habe, war plötzlich ein schwerer Schatten über ihm, drückte seinen Kopf in den ekeligen fauligen Brei, er wollte schreien – ›Brüderchen, was tust du denn? Ich ersticke
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