Bluthochzeit in Prag
erblickte er nun im weißen Geisterfinger des Scheinwerfers den im Kreise fliegenden Hubschrauber. Es war ein Flugzeug der Armee, und in diesem Augenblick wußte Pilny, daß man seine Hilferufe gehört hatte oder daß es Irena doch gelungen war, nach Horni Vltavice durchzubrechen.
Pilny sah, wie der Hubschrauber abdrehte, an Höhe verlor und dann zur Landung herunterging. Das Schießen verstummte, nur der leuchtende Finger blieb am Himmel und pendelte hin und her, als seien die Bedienungsmannschaften betrunken.
In diesem Lichtschein, der nun über den Bäumen lag, bemerkte Pilny etwas Weißes im Geäst. Es hing langgezogen herunter, wie ein riesiger Eiszapfen.
Einen Augenblick zögerte Pilny, dann lief er über die Lichtung und starrte die Bäume hinauf.
Ein Fallschirm! Hoch oben in den Zweigen hatte er sich verfangen. Was an ihm hing, konnte er nicht erkennen … es fing sich in der schwarzen Dunkelheit der Blätter und Äste.
Es ist ihnen doch gelungen, etwas abzuwerfen, durchfuhr es ihn. Hing jetzt ein Mensch oben in den riesigen Bäumen? Waren noch mehr abgesprungen und versuchten jetzt, die jahrhundertalten Stämme hinabzuklettern?
Pilny zögerte nicht lange. An einem vom Wirbelwind aus der Erde gedrehten Baum, der schräg in den anderen Bäumen lag und so, gestützt von den kräftigen Stämmen, gestorben war, kletterte er empor, erreichte das dicke Astwerk und stieg dann höher, bis er den Fallschirm erreichte. Er arbeitete sich mühsam bis zu den Leinen durch und sah dann, daß kein Mensch in den Gurten hing, sondern nur eine Kiste. Die Kanten waren mit Blech beschlagen, damit der Behälter beim Aufprall auf dem Boden nicht auseinanderplatzte.
»Aha!« sagte er laut zu sich und setzte sich erschöpft auf eine Astgabel. »Ich hatte recht. Der Hubschrauber war für uns.«
Es war unendlich mühsam, an die frei hängende Kiste heranzukommen, sie hochzuziehen, von den Gurten zu lösen und dann auf den weichen Waldboden fallen zu lassen. Über eine Stunde arbeitete Pilny schwer, dann kletterte er zurück zur Erde, setzte sich auf die Kiste und legte das Gesicht keuchend in seine Hände. So hockte er eine ganze Zeitlang, völlig am Ende seiner Kräfte.
Sie haben nicht nur diese eine Kiste abgeworfen, dachte er dabei. Wenn sie es schon wagen, über die Sowjets hinwegzufliegen, dann haben sie mehr aus dem Hubschrauber geworfen. Es müssen noch einige Fallschirme in den Bäumen hängen … hier, im engen Umkreis … aber ich kann sie nicht mehr suchen, ich bin fertig. Leute, ich kann nicht mehr, ich komme auf keinen Baumstumpf mehr hinauf, geschweige auf einen Baum. Morgen, da will ich es versuchen; jetzt weiß ich nicht einmal, wie ich die Kiste zum Lager bringe. Ich fühle mich wie ein Mensch ohne Knochen. Ich bin ein Wesen aus Pudding. Umfallen und schlafen … oh, ist das eine Sehnsucht!
Aber nachher gelang es ihm doch. Er wuchtete die Kiste auf seine Schulter und hatte das Gefühl, auf allen vieren weiterkriechen zu müssen. Die Kiste wog so schwer wie ein Waggon Steine, jeder Schritt verbrauchte ein Stück Lunge, riß aus dem Herzen einen Fetzen weg … doch er erreichte die Höhlen, ließ die Kiste von seiner Schulter fallen, legte sich daneben und wartete darauf, daß er nun vor Erschöpfung starb, daß das wild schlagende Herz einfach aussetzte oder seine Lunge mit einem Knall zerplatzte. Die Nerven in seinen Beinen begannen zu zucken, durch seinen Körper lief ein Flimmern … da umarmte er die Kiste, drückte den Kopf gegen das rauhe Holz und schlief ein.
Er wachte auf, als der Morgen dämmerte, und fühlte sich frisch und stark. Sein erster Weg führte zu Michael Lucek. Der hatte sich noch nicht bewegt, lag auf dem Rücken wie nach der Operation und schlief noch immer. In der Höhle roch es widerlich nach Alkohol. Mit jedem Atem stieß Lucek einen Geruch aus, der sonst nur notorischen Säufern anhaftet. Der Schnaps hatte sein Gehirn gelähmt, mit offenem Mund schnarchte er, der Körper war bewegungslos. Pilny legte die Hand auf Luceks Stirn … das Fieber war zurückgegangen, aber es konnte wiederkommen, wenn der Körper erst merkte, wie sehr er durch die verzweifelte Operation mißhandelt worden war.
Die Kiste, die Pilny später aufstemmte enthielt alles, was er für Micha brauchte: Verbände, schmerzstillende Spritzen, Morphium, Äther, Antibiotika, sterile Tücher in Chromtrommeln, antiseptische Seife, Tabletten zur Herstellung von antiseptischem Wasser, ein kleines chirurgisches Besteck, drei
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