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Bluthochzeit in Prag

Bluthochzeit in Prag

Titel: Bluthochzeit in Prag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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russischen Bevölkerung getötet hatten. Doch dann sah er den Haß der ›Freunde‹, hörte ihre Flüche, wurde angespuckt und angeschrien: »Was willst du hier? Wer hat dich gerufen?«, und er bekam Zweifel, die nun wie ein Stachel in ihm saßen.
    »Wir sind hier nicht beliebt«, sagte er wehmütig. »Und dabei will ich, daß man uns als Freunde sieht.« Er drehte das Fotoalbum von Kiew zwischen seinen Händen und blickte Irena mit seinen großen blauen Kinderaugen an. »Was denken Sie über mich?«
    »Sie sind ein lieber Kerl, Semjon Alexejewitsch«, sagte Irena ehrlich. Es war die Wahrheit … er schien so anders als alles, was sie sich unter einem Russen vorgestellt hatte. Sie erinnerte sich an die Erzählungen ihres Vaters aus dem Krieg, aus dem Baltikum, von der grausamen Flucht, und sie verstand, warum die Kriegsgeneration mißtrauisch und zurückhaltend war, sich belauerte und beschuldigte und keinen Weg mehr zueinander fand. Millionen Tote standen zwischen ihnen … das ist ein Berg von Leichen, den man nur mühsam erklettern kann.
    Aber die Jugend? Die neue Generation? Die Menschen, die Frieden wollten? Warum schallten hier die Stimmen aneinander vorbei? Warum zog man Mauern und Stacheldraht auch zwischen sie? Warum schoß man aus Wachttürmen auf sie und ließ sie im Todesstreifen zwischen den Grenzen verbluten?
    Muratow sah auf seine Uhr. Eine halbe Stunde, sie war gleich um. Was ist eine halbe Stunde für ein Herz, das überfließt?
    »Was machst du, wenn du gesund«, fragte er.
    »Ich werde zu meinen Eltern fahren.«
    »Nach Leipzig?«
    »Ja.« Habe ich damals Leipzig gesagt, dachte Irena erschrocken. Oder ist das eine Falle? Sie schielte zu Muratow, aber dieser strahlte nur mit seinen blauen Augen.
    »Ich werde kommen nach Leipzig.« Muratow war glücklich über diesen Gedanken. »Ich werde Leipzig lieben wie Kiew, Irena. Ich … ich werde alles lieben, wo du bist …«
    Er zuckte zusammen. An die Tür wurde geklopft. Eine halbe Stunde war vorbei. Der Pfarrer besaß eine genaue Uhr. Außerdem hatte er keine Lust mehr, draußen an der Tür zu lauschen. Muratow bekam ein unglückliches Gesicht, wie ein Junge, dem man seine Eisenbahn wegnimmt und in einen Schrank sperrt. Er erhob sich und drückte das Fotoalbum von Kiew unter seine linke Achsel.
    »Ich komme wieder«, sagte er. »Am Nachmittag. Ich bringe noch etwas mit. Einen Brief von Mamuschka. Du mußt ihn lesen … Ich habe eine wunderbare Mamuschka. Sie wird dir gefallen …«
    Und plötzlich beugte er sich über Irena und küßte sie auf die Stirn, bevor sie den Kopf wegziehen konnte. Mit weiten Schritten ging er dann zur Tür.
    »Was war hier los?« fragte der Pfarrer, der sofort in Irenas Zimmer stürzte, als hinter Muratow die Haustür zudonnerte.
    »Er ist verliebt.« Irena schob die Arme unter ihren Nacken und blickte wieder auf den blauen Himmelsfleck im Fenster. »Er ist ein lieber, armer Kerl … Herr Pfarrer … ich gehe schon heute nacht zurück in die Wälder –«
    Es sollte eine Rückkehr werden, wie sie in dieser Stunde noch niemand ahnte: eine Rückkehr in die Ausweglosigkeit.

XI
    Karel Pilny erwachte von dem Geknatter der überschweren Maschinengewehre. Erschrocken fuhr er hoch und sah, daß er auf dem Waldboden geschlafen hatte, neben dem Stein, auf dem er vorher saß. Die leere Schnapsflasche lag vor ihm, und er erinnerte sich, daß er nach der Operation an Lucek sich mit Alkohol vollgepumpt hatte, um nichts mehr zu hören und zu sehen. Jetzt fror er, die Kühle der Nacht war bis in seine Knochen gekrochen, er sprang auf und stampfte mit den Beinen, schlug die Arme gegen seinen Körper und hüpfte um den großen Stein herum, damit sein Blut wieder in Wallung geriet. Dabei lauschte er auf das Schießen. Es war ganz nahe, so, als ständen die Maschinengewehre jenseits der sumpfigen Schlucht. Warum sie schossen und wohin, das war ihm rätselhaft. Doch dann hörte er das schwirrende Brummen, durch das dichte Blätterdach fiel ein zuckender Widerschein, der zu wandern schien …
    Ein Hubschrauber, hier über dem Urwald.
    Ein Scheinwerfer der Sowjets hat ihn erfaßt, und nun beschießen sie das Flugzeug.
    Pilny lief zurück zur Höhle, zog seine Jacke an und sah noch einmal nach Lucek. Er schlief, mit ruhigem, langgezogenem Atem. Vollzog sich hier wirklich ein Wunder? Dann rannte er hinaus und lief durch den dichten Wald bis zu einem Windbruch, den er bei seinen Erkundungsgängen durch die nähere Umgebung entdeckt hatte. Hier

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