Bluthochzeit in Prag
wohler, Genosse!« Tschernowskij lächelte etwas verzerrt. »Ich werde das Urteil über alle Sender verbreiten lassen. Vielleicht hört es unser lieber Muratow …« Und Muratow hörte es.
Die Meldung wurde in russischer Sprache mit den Nachrichten um 17 Uhr ausgestrahlt. Radio Prag und der Sender Pilsen brachten sie … für die anderen Gebiete war es uninteressant, denn Muratow versteckte sich bestimmt nicht in der Hohen Tatra.
Die Spinne hatte ihr Netz ausgespannt, nun mußten die Fliegen kommen und sich darin verfangen. Für Tschernowskij war es so sicher wie saure Sahne im Borschtsch, daß in Kürze etwas geschehen würde. Ein zum Tode verurteilter Muratow mußte in den Westen flüchten.
Tschernowskijs Gedanken erwiesen sich als richtig.
Das Todesurteil über Muratow schuf eine völlig neue Lage.
Als über den Sender Pilsen am Anfang der Nachrichten die Meldung in russischer Sprache verlesen wurde, sprang Muratow auf, preßte die Fäuste gegen die Brust, und plötzlich heulte er wie ein hungriger Wolf. Die Tränen rannen ihm über die Backen, er fiel auf die Knie, und Valentina sprang zu ihm, stützte ihn und hielt ihn fest. Da waren aber auch schon Pilny und Irena bei ihm und warfen sich über den Tobenden. Muratow war wie von Sinnen … er stieß undeutliche Schreie aus, bäumte sich unter dem Gewicht der Körper, die über ihm lagen und ihn auf den Waldboden preßten … dann lag er still, nur sein Gesicht zuckte wild, und immer wieder schrie er auf Russisch: »Tötet mich doch! Wer tötet mich? Habt Erbarmen! Seid gute Menschen! Tötet mich doch …«
»Was hat er denn?« keuchte Irena, als der Widerstand des Tobenden nachließ. »Ist er verrückt geworden? Was haben sie denn da gesagt?«
»Sein Todesurteil.« Valentina ließ Muratows Arme, die sie auf den Boden gedrückt hatte, los. »Seine Division hat ihn vor drei Stunden wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Es gibt keinen Leutnant Muratow mehr …«
»O mein Gott, mein Gott …« Irena legte den Kopf gegen Pilnys Brust. »Und ich bin schuld. Ich habe ihn auf dem Gewissen …«
»Tötet mich!« stammelte Muratow. Er saß jetzt auf dem Boden und hob bettelnd beide Hände. »Ich flehe euch an … nehmt meine Pistole und erschießt mich! Was soll ich denn noch auf der Welt? Wo ich auch hingehe … sie werden mich umbringen –«
»Sei still, Semjon Alexejewitsch«, sagte Valentina hart. Sie sprach russisch, und der tränenüberströmte Kopf Muratows hob sich ihr erstaunt entgegen. »Sie haben mit diesem Urteil Klarheit geschaffen. Nun weißt du, wohin dein Weg führt. Du kommst mit uns.«
»Und dann?«
»Es wird sich etwas finden, Brüderchen. Nur erst drüben sein.« Sie blickte hinüber zu Pilny, der die russische Unterhaltung verblüfft verfolgt hatte. Sie spricht ein fabelhaftes Russisch, dachte er. Sie wird immer rätselvoller. Und wieder kam in ihm ein ungutes Gefühl hoch, das er schon bei seiner ersten Begegnung mit Miroslava gespürt hatte. Damals, als sie aus Paris nach Prag kam und Grüße von einem Funkkollegen bestellte, an den er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte.
»Muratow wird mit uns gehen«, sagte Valentina. »Jetzt gehört er ganz zu uns. Er kann uns viel helfen, schon durch seine Uniform.«
»Überall wird er mit ihr auffallen!« schrie Lucek, der auf einer Decke lag und sich von seinen Gehübungen erholte. »Wir sollten bei unserem ersten Plan bleiben, ihn anbinden und zurücklassen, bis wir über die Grenze sind.«
»Und die Rotgardisten, die ihn dann abholen werden, werden ihn am gleichen Baum erschießen!« Valentina stand hinter dem noch immer knienden Muratow. Sie hatte seinen zuckenden Kopf wie schützend zwischen beide Hände genommen. »Er kommt mit uns, Micha!«
»Ja, er kommt mit!«
*
Frau Bozena Plachová, die Zimmerwirtin Pilnys in Prag, erinnerte sich in diesen Tagen eines Vetters zweiten Grades, der vor zwanzig Jahren nach Wien gezogen war und dort eine Kohlenhandlung eröffnet hatte. Der Kontakt mit Bohumil Jandrez war nie gut gewesen, in zwanzig Jahren hatte er dreimal Karten zu Weihnachten geschrieben, und auch das nur in den ersten Jahren. Dann riß die Beziehung ab. Bohumil, so erinnerte sich Frau Plachová, war ein fetter Mensch, der ein liederliches Leben geführt hatte, den Weibern unter die Röcke und in die Blusen griff und scheinbar erst in Wien gelernt hatte, was Arbeit ist, denn – so berichtete eine Besucherin vor drei Jahren – Bohumil Jandrez betrieb in Wien eine der
Weitere Kostenlose Bücher