Bluthochzeit in Prag
acht Tage und Nächte dauerte, in denen Lucek nachweislich vier Pfund abnahm, brachte er eines Abends ein dick verschnürtes Paket mit. Valentina, die gerade am Kochherd stand und zwei Schnitzel briet, beobachtete neugierig, was Lucek auspackte. Es waren Lehrbücher, die sie für ihr Medizinstudium brauchte, Kolleghefte von Kommilitonen älterer Semester, in denen man den Stoff der unteren Semester nachlesen konnte, Wandbilder vom Knochenbau des Menschen, seinen Sehnen und Muskeln, Nerven und Blutgefäßen.
»Es ist unmöglich, daß du vorerst wieder in die Uni gehst«, sagte Lucek, als er alles auf den Tisch geschichtet hatte. »Seit drei Tagen werden wir beobachtet. Die dummen Hunde vom Sicherheitsdienst glauben zwar, wir erkennen sie nicht –, aber so einfach ist das nicht, uns Läuse in den Pelz zu setzen. Wer sich bei uns einschleusen will, muß das schon anders anfangen.«
Valentina wandte sich ab. In ihren Augen stand plötzlich tiefe Traurigkeit. Du darfst nie erfahren, wer ich bin, dachte sie. Nie! Es wäre unser Tod. Wir müßten uns auseinanderreißen … und kann ein Torso leben?
»Das ist schlimm«, sagte sie und wendete die Schnitzel in dem bruzzelnden Fett. »Was wollt ihr unternehmen?«
»Wir beobachten die Burschen und lassen sie in dem Glauben, wir seien ahnungslos. Einmal wird die Gelegenheit kommen, ihnen die Hosen runterzuziehen. Sogar aus Ost-Berlin sind zwei gekommen. Gestern hat man alle Studenten, die rote Haare haben, nach ihren Namen gefragt. Ganz offiziell, durch die Kriminalpolizei. Eine genau geplante Aktion … in allen Fakultäten wurden die Rothaarigen zur gleichen Stunde vernommen. Angeblicher Grund: Man suchte einen rothaarigen Einbrecher, der Student sein soll. Doch keiner glaubt das. Es weiß aber auch niemand, was das mit den roten Haaren bedeuten soll.«
Dieses Geheimnis wurde auch nie bekannt, denn es entsprang ja nur der Phantasie von Frau Navratilová und Major Krupkin. Noch dreimal hatte sie Besuch vom sowjetischen militärischen Geheimdienst. Krupkin legte ihr eine Masse Fotos vor, die er aus Moskau von der Zentrale bekommen hatte. Auch Karel Pilny und Michael Lucek waren darunter. Frau Navratilová erkannte sie sofort, aber schüttelte bedauernd mit dem Kopf. »Alles nichts«, sagte sie. »Sind das alles Verbrecher?«
Major Krupkin schwieg, klemmte das Fotoalbum unter die Achsel und verließ mißmutig das alte Haus. Und wenn Tschernowskij noch so sehr tobt, dachte er, hier kommen wir nicht weiter. Die Kysaskaja ist verschwunden. Vielleicht taucht sie eines Tages in Hollywood auf. Mit Brustweite 93 hat sie dort alle Chancen.
»Es ist also unmöglich, daß du dich in der Öffentlichkeit zeigst«, sagte Lucek, als Valentina die Schnitzel auf die Teller legte und den Salat noch einmal in der Soße wälzte. »Aber dein Studium sollst du deswegen nicht abbrechen. Ich habe dir alles mitgebracht, was du brauchst. Die Antestate und Abtestate besorge ich dir … wozu bin ich Famulus in der Anatomie? Drei Freunde stenographieren alle Vorlesungen mit … du kannst sie hier in aller Ruhe nachlesen. Und damit es auch klappt, werde ich dich jeden Tag abhören. Vielleicht ist in drei, vier Wochen schon alles anders. Hier in Prag ändert sich jetzt vieles von einem Tag auf den anderen.« Er entrollte das Wandbild von den Nerven des Menschen und fragte: »Zeig mir mal den Nervus ischiadicus und erkläre mir das Ischias-Symptom nach Bechterew-Jakobson.«
Valentina stellte die Salatschüssel auf den Tisch, öffnete ihre Bluse und zeigte auf die seidige Haut unter ihrer prallen, linken Brust. »Und wenn es hier schwer wie ein Zentner ist –, was ist das?«
Micha Lucek ließ das Wandbild mit den Nerven des Menschen fallen. Man verzeihe es ihm … er war auch nur ein Mann!
An diesem Abend wurden die Schnitzel kalt gegessen. So vergingen die Tage und Wochen.
Die Untergrundzeitungen erschienen nun öfter, denn die Truppen der Sowjets waren noch immer im Land. Schon mehrmals war ihr Abrücken bekanntgegeben worden, aber immer wieder kam es zu Verzögerungen. Marschall Jakubowski hatte keine Eile; er genoß die Demonstration der Macht. Daß das westliche Ausland sich erregte, daß man Spekulationen an dem Verbleib der Manövertruppen knüpfte, daß die NATO unruhig wurde, daß vor allem Westdeutschland mit Rundfunk, Presse und Fernsehen wilde Gerüchte heraushämmerte, die von einer dauernden Besetzung der CSSR sprachen, genau das war im Sinne Moskaus. »Unruhe und Angst sind mehr wert
Weitere Kostenlose Bücher