Bluthochzeit in Prag
als 100 Divisionen«, sagte auch General Ignorow. »Man sollte in längeren Abständen den Menschen immer wieder zeigen, daß sie auf einem Vulkan leben, der jede Minute unter ihrem Hintern aufbrechen kann. Das hält die Politik in Schwung. Immer nur Entspannung … sagen Sie selbst, Genossen –, ist ein gähnender Politiker ein schöner Anblick?«
Es wurde Ende Juli … die Manövertruppen saßen in den Wäldern fest wie Tannenzapfen. Marschall Jakubowski schien keinen Kalender zu kennen. Fast jeden Tag hieß es: Jetzt räumen wir … und am nächsten Tag bewegte sich noch immer nichts in Richtung Osten.
Um so mehr wuchs die Saat der Freiheit. Mit gerunzelter Stirn verfolgten die Herren im Kreml das weiter fortschreitende Tauwetter, das langsame Hinausgleiten der CSSR aus dem Block des Kommunismus. Sowjetrußlands westliche Faust, die Europa in den Magen stieß, wurde weich. Die Schriftsteller waren die schlimmsten Reformer … in ihren Blättern, vor allem der ›Literarni Listy‹, entfachten sie einen frischen Wind, der selbst im fernen Moskau in den Haaren zauste, vor allem aber in Ost-Berlin, wo die Herren in Karlshorst sich vorkamen, als pfeife es durch ihre Hosen. Die Diplomatie lief auf Hochtouren. Wie kann Moskau es dulden, fragte man in Ost-Berlin, daß Männer wie Dubcek und Smrkovsky in aller Offenheit davon sprechen, daß zwanzig Jahre lang alles falsch gemacht wurde? Genossen, wo steuern wir hin, wenn der Wind weiter so bläst aus Prag …?
»Es ist das alte Lied«, sagte in Moskau General Ignorow und stapelte die Studenten- und Intellektuellen-Zeitungen auf seinem Schreibtisch. »Wenn man einem Hund den Maulkorb abnimmt, bellt und beißt er und holt die Zeit nach, in der er einen Maulkorb trug. Die Folge: ein neuer Maulkorb! Und soweit sind wir bald. Am 3. August ist die CSSR von allen unseren Truppen geräumt. Das weiß ich von Jakubowski persönlich. Von da ab werden die Tschechen Purzelbäume schlagen, und die Westdeutschen werden ihnen applaudieren und assistieren. Merken Sie was, Andrej Mironowitsch? Wir lassen das Hündchen bellen und die ganze andere Meute mitkläffen. Und dann machen wir schnapp … Drahtkorb um … und rein in die Hütte! Und es wird keinen geben auf der ganzen Welt, der uns daran hindern wird. Kann ein Hundebesitzer nicht mit seinem Köter machen, was er will? Na also, Andrej Mironowitsch. Nur noch ein paar Tage Geduld, und wir werden demonstrieren, daß Rußland an grobe Jahreszeiten gewöhnt ist und auch ein schnelles Tauwetter wieder vereisen kann.«
Und dann sagte er etwas, was Oberst Tschernowskij fast aus den Schuhen hob. Ignorow, dieser gelbgesichtige Gnom, diese Spinne im Netz der Agenten, warf es ihm hin wie einen Pfannkuchen auf den Teller.
»Wenn es soweit ist, Andrej Mironowitsch, in ein paar Tagen sicherlich, werden auch Sie nach Prag fliegen können –«
IV
In Prag fand an einem dieser Tage eine merkwürdige Besprechung statt. Im Zimmer eines der technischen Leiter des Rundfunks versammelten sich Redakteure, Rundfunksprecher, Techniker und Kollegen vom Fernsehen. Die Einladungen waren mündlich erteilt worden. So hatte man auch Karel Pilny erst eine Stunde vorher angerufen, aber keinen Grund genannt.
Nun saß man an einem langen Tisch zusammen, an der Wand hing eine Karte, und neben dem Genossen Vacek, der eingeladen hatte, sah man einen jüngeren Mann, der ein Offizier war, obwohl er Zivilkleidung trug. Er konnte es nicht verbergen; seine Haltung, die Begrüßung jedes Eintretenden mit Handschlag und einer etwas zackigen Kopfbewegung verrieten ihn sofort. Dann wurde die Tür geschlossen, und Schweigen senkte sich über die Versammelten.
»Wir sind unter uns«, begann Jan Vacek, der technische Leiter, und sah jeden einzelnen an, als wolle er ihn unter Eid nehmen. Und er sagte es auch ganz deutlich. »Wir sind jetzt nicht nur Genossen, sondern Brüder. Und wer aus der Runde ausbricht, ist nicht nur ein hundsgemeiner Verräter, sondern wir anderen werden ihn jagen wie einen Wolf. Man hat euch ausgewählt, Genossen, weil ihr mutig seid, eure Heimat liebt, die Unfreiheit haßt und bereits in der Welt von morgen lebt, und nicht mehr in der von gestern.«
»Zur Sache, Vacek!« rief jemand aus dem Hintergrund. »Das wissen wir alle. Oder sollen das vorweggenommene Nachrufe sein?«
Jan Vacek wandte den Kopf zu dem Mann an seiner Seite.
»Wollen Sie reden, Genosse Peterka?«
Der Offizier in Zivil nickte. Er stand auf, ging an die Karte und stellte sich
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