Bluthochzeit in Prag
nein, das hatte man nicht gesehen.
»Irgend etwas ist faul«, sagte Pilny, als sie wieder über einsame, schmale Wege nach Westen fuhren, immer auf dem Kamm des Erzgebirges, manchmal nur über Wanderpfade, die so schmal waren, daß der kleine Skoda Pilnys gerade noch über den von Wind und Regen ausgewaschenen Boden hoppeln konnte. »Warum wurde entlang der Grenze zur DDR alles Sperrgebiet? Warum darf man drüben die Straßen nicht mehr verlassen und in die Wälder fahren? Irena, – ich rieche die Gefahr! Da drüben, nur ein paar hundert Meter von uns entfernt, entwickelt sich eine riesige Schweinerei.«
In den Wäldern bei Silberbach ließen sie den Wagen stehen und wanderten zu Fuß einen Berg hinauf, auf dessen Kuppe eine Schutzhütte des tschechischen Skiverbandes stand. Von hier aus hatte man einen weiten Blick, tief nach Sachsen hinein, nach Klingenthal, Markneukirchen und Johanngeorgenstadt. Die dichten dunklen Wälder lagen unter ihnen, die verstreuten Häuser der kleinen Bergdörfer, die Bäche und Flüsse. Es war ein trüber Tag, Dunst wehte in zerfetzten Schleiern aus den Tälern. Der Himmel hing grau über dem Gebirge. Karel und Irena hatten die Kragen ihrer Wettermäntel hochgeschlagen. Die Luft war so mit Feuchtigkeit gesättigt, daß selbst unter dem Kopftuch Irenas Haare naß wurden und sich lustige Löckchen über ihrer Stirn kräuselten.
Mit einem starken Fernglas strich Karel die Gegend ab. Er tastete sich Meter um Meter weiter, durch Schluchten und Hohlwege, an den Bauernhäusern vorbei, an Teichen und Scheunen, über die grüne Wand der Baumwipfel und die blassen, beackerten Senken.
»Wenn hier Panzer liegen, dann sind sie verdammt gut getarnt«, sagte er nach einiger Zeit. »So friedlich auch alles aussieht … es juckt mir unter der Haut. Ich bin da wie eine Antenne, die feinste Impulse auffängt. Und jetzt kribbelt es wieder –« Er reichte Irena das Fernglas und wischte sich die Feuchtigkeit vom Gesicht. »Such du mal die Gegend ab … vielleicht siehst du mehr.«
Aber auch Irena sah nichts als das friedliche Bild einer Bilderbuchlandschaft. Ein paar Kühe auf den Weiden, ein Trecker, der zu einem Feld ratterte, zwei Autos, die wie Käfer über die Straße krabbelten.
»Nichts.« Sie gab das Fernglas zurück. »Gott sei Dank nichts.«
Pilny hängte das Glas um und legte den Arm um Irenas Schulter. »Das klingt, als ob du Angst gehabt hättest, Liebling.«
»Ich hatte Angst. Bei Gott, ich hatte schreckliche Angst.« Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Eine wohlige Geborgenheit durchzog sie. Wir alle waren in den letzten Wochen nervös, dachte sie. Die Reformen, der neue Sozialismus, das Wegschmelzen des eisigen Moskauer Kurses, dann die Manöver, die Drohung der Sowjets, das zögernde Abziehen der Truppen … das bleibt auf der Seele liegen wie Schimmel. Aber von Tag zu Tag atmete es sich jetzt freier. Es ist wie das langsame Genesen eines Kranken … erst wird das trübe Auge heller, dann kann man die Arme wieder bewegen, und dann die ersten Schritte, tastend, vorsichtig, ängstlich … aber von Meter zu Meter sicherer … der erste Blick in den blühenden Garten, der erste Ausgang … und man wird gesünder und gesünder und das Leben kehrt zurück mit all seiner Schönheit.
»Dieses Mal hat deine Antenne die falschen Zeichen aufgefangen«, sagte sie und stieß ihn lachend an.
Pilny schwieg. Er stand wieder auf dem Plateau vor der Schutzhütte und blickte durch das Fernglas hinüber nach Klingenthal. Auf den Dächern glänzte die Nässe, die Kirchtürme durchstießen die niedrig hängenden Wolken.
Nichts. Nur ein Land im Nebeldunst.
Am Nachmittag kamen sie zurück nach Teplitz. Vom Hotel aus telefonierte Pilny mit dem Funkhaus in Prag.
»Werft die vertraulichen Berichte aus Österreich und Deutschland in den Papierkorb«, sagte er. »Eine dämliche Panikmache ist das. Hier an der Grenze ist alles friedlich wie in einem lyrischen Gedicht über den Wald. Über allen Wipfeln ist Ruh' … Aber glaubt nicht, daß ich jetzt zurückkomme. Drei Tage waren ausgemacht.«
Zufrieden hängte Pilny ein. Drei Tage Ruhe. Drei Tage mit Irena im Gebirge. Von ihm aus konnte es jetzt regnen und donnern und blitzen, die Welt konnte untergehen im Nebel oder in Wolkenbrüchen ertrinken … Er war allein mit Irena – was kümmerte ihn da noch die andere Welt?
Welch ein Irrtum!
In den Wäldern, die Pilny mit dem Fernglas abgesucht hatte, liegen 35.000 Mann und 1.300 Panzer … die Armeegruppe B
Weitere Kostenlose Bücher