Bluthochzeit in Prag
Panzern hockten die Sowjetsoldaten, junge Burschen, die meisten noch keine zwanzig Jahre alt, und starrten mit großen Augen in die tobende Menschenmenge. Sie verstanden nichts. Für sie war das alles ein großes, unbegreifbares Rätsel. Sie waren als Freunde gekommen. Als Befreier – so hatte man es ihnen kurz vor dem Einmarsch gesagt. Die Politoffiziere hatten sie aufgeklärt: Man besetzte die Freunde, um einem Einfall der Westdeutschen zuvorzukommen. Man schützte sie vor den westlichen Imperialisten. Ja, die tschechische Regierung habe sogar um Hilfe gebeten. Und nun umringten Tausende die Panzer, hoben drohend die Fäuste, schrien die Rotarmisten an, schwenkten die Nationalfahnen, stellten sich ihnen in den Weg und fragten: »Was wollt ihr hier? Nennt ihr es Freundschaft, ein Volk zu überfallen? Geht nach Moskau zurück! Schweine seid ihr alle, alles Schweine! Lumpen!« Und sie wurden mit Eiern und Tomaten beworfen, mit Plastiktüten voll Farbe und mit dem stinkenden Inhalt von Abfalltonnen. Hübsche Mädchen schüttelten die Fäuste, alte Frauen spuckten die Panzer an, Sprechchöre übertönten die lauten Diskussionen: »Nach Moskau! Viva Dubcek! Viva Dubcek!«
Nein, die jungen Burschen in den erdbraunen Uniformen und den Käppis auf den kahlgeschorenen Schädeln verstanden die Welt nicht mehr. Fast ängstlich, die Maschinenpistole umklammernd, hockten sie auf den stählernen Riesen oder bildeten Ketten um die Lastwagen und leichten Geschütze. Ab und zu schielten sie zu ihren Offizieren. Aber diese waren ebenso ratlos wie sie. Sie unterhielten sich mit den Tschechen, zuckten dann mit den Schultern und schossen, wenn sie zu sehr bedrängt wurden, sinnlos in die Luft. Sie erkannten nur eins: Man liebte sie nicht. Man haßte sie. Man würde sie mit den bloßen Händen erwürgen, wenn irgendein Wahnsinniger den Befehl dazu gab.
»Ich bin soweit!« sagte Valentina. Sie trug einen roten Pullover und enge Blue jeans. Das Haar hatte sie nach links zusammengekämmt, mit einem Tuch umwickelt und ließ es nun als großen Pferdeschwanz über die Schulter und die linke Brust wehen. Es sah verwegen und hinreißend aus.
Micha Lucek legte den Hörer auf. Sein Gesicht war bleich und wirkte um Jahre älter.
»Es stimmt – sie haben Dubcek verhaftet. Man sagt sogar, sie hätten ihn weggeschleppt. Keiner weiß, ob er überhaupt noch lebt. Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Los … die Freunde warten auf uns!«
Sie rannten aus der Wohnung, stürzten die Treppe hinunter und schlossen die alte Villa ab. Lucek fuhr seinen Wagen aus der Garage, die einmal eine Pferderemise gewesen war, als vor fünfzig Jahren die Bewohner dieses Hauses hochherrschaftlich mit einem Zweispänner den Park verließen und durch Prag klapperten. Vor der Ausfahrt hielt er. Dort hatte Valentina das schmiedeeiserne Tor geöffnet und winkte. Lucek sprang aus dem Wagen. Er zog Valentina an sich und sah ihr tief in die großen schwarzen Augen.
»Ich bin stolz, daß du mitkommst«, sagte er mit belegter Stimme.
»Hast du jemals daran gezweifelt, Micha?«
»Ich nicht, aber andere.«
In den Augenwinkeln Valentinas zuckte es. Achtung! Wer war es, der ihr nicht traute?
»Wer?« fragte sie kurz.
»Karel zum Beispiel.«
»Pilny?« Valentinas Herz machte drei schnelle Schläge hintereinander. Hatte sie in den vergangenen Wochen einen Fehler gemacht? Wodurch war Pilnys Mißtrauen geweckt worden? Hatte er noch mit anderen darüber gesprochen? Was wußte Irena? »Das glaube ich nicht«, sagte sie langsam und gedehnt.
»Als ich dich in den Druckereikeller mitnahm, machte er mir Vorwürfe. Er hatte ja recht … keiner kannte dich, du warst fremd, nur ich, ich wußte, daß du zu uns gehörst. Ich habe es gefühlt vom ersten Blick an.«
»Ich gehöre zu euch, wie dein Arm zu dir gehört, dein Atem, dein Herz.« Sie umarmte ihn, und es war wieder eine jener Minuten, in denen die Umwelt versank. »Ich werde immer bei dir sein, Micha. Nie haben zwei Menschen so zusammengehört wie wir.«
»Und du hast keine Angst?«
»Gar keine, Micha.«
»Und wenn die Sowjets schießen?«
»Dann werden wir uns umarmen und warten, daß sie uns zusammen töten.«
»Komm –«
Sie stiegen in den Wagen und rasten dann durch die noch morgenstillen Straßen der Vorstadt. An der Palacky-Brücke gab es den ersten Aufenthalt.
Sieben Panzer hatten die Zufahrt besetzt. Sowjetsoldaten auf Motorrädern mit Beiwagen ratterten die Uferstraße herunter, zwei Pakgeschütze waren in Stellung
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