Bluthochzeit in Prag
ohrenbetäubenden Explosionen die Panzergranaten, zu denen das Feuer vorgedrungen war. Stahlplatten wirbelten durch die Luft. Dichte, ölfette Qualmwolken zogen träge über die Straße und reizten die Kehlen.
Die Studentengruppe hatte sich wieder gesammelt. Einige waren verwundet, Blut lief ihnen aus den Haaren über die Gesichter. »Es hat schon zwölf Tote gegeben!« schrie jemand. »Da … da tragen sie die Fahne mit dem Blut des ersten Toten!«
Lucek und Valentina blieben stehen. Qualm umwehte sie, die ganze Straße war ein Schlachtfeld geworden. Schreie, Schießen, Explosionen, wehende Fahnen, rennende Menschen, hochgereckte Fäuste, aufgerissene Münder …
»Ihr Schweine! Zurück nach Moskau!«
Und dann die Internationale, die Nationalhymne, ein Kampflied aus dem Zweiten Weltkrieg und der donnernde Sprechchor: »Dubcek! Dubcek!«
An einem Fenster in der ersten Etage eines Hauses gegenüber dem Funkgebäude stand Oberst Tschernowskij. Als die sowjetischen Abteilungen die Vinohradska herunterkamen, war er mit drei Begleitern einfach in eines der Häuser gegangen, hatte geklingelt, den verblüfften Wohnungsinhaber zur Seite gedrückt und hatte die Wohnung besetzt.
Tschernowskij stand am offenen Fenster. Ein unerklärliches Gefühl hatte ihn zum Funkhaus getrieben, nachdem er mit einem Wagen der tschechischen Geheimpolizei kreuz und quer durch Prag gefahren war und die Brennpunkte des Widerstandes besichtigt hatte. Ich ahne es, daß ich sie dort sehen werde, dachte er und preßte die Fäuste gegeneinander. Tschernowskij beugte sich aus dem Fenster. Unter ihm wogten die Menschenmassen, keilten die ersten Panzer ein, ging der T 52 in Flammen auf, explodierte ein Munitionswagen, dem zwei Jugendliche tollkühn brennendes Zeitungspapier in den Benzintank gestopft hatten. Ambulanzen heulten heran, Sanitäter rannten mit Bahren über die Straße, vor dem Eingang des Funkhauses stürmten die Rotarmisten eine Menschenmauer.
Und dann sah er sie … im dichtesten Getümmel, untergehakt bei einem großen, jungen blonden Mann, der um seinen Hals einen roten Schal gewickelt hatte. Sie hielt die tschechische Fahne umklammert und stemmte sich den Soldaten entgegen. Ihr langes schwarzes Haar flatterte über ihr wildes Gesicht. Der blonde Mann umfaßte sie jetzt, legte den Arm um ihre Schulter, drückte sie an sich … gemeinsam umklammerten sie die Fahne, während die Rotarmisten sich durch die Menschenketten schlugen …
Das ist er, dachte Tschernowskij. Vor seinen Augen flimmerte das Bild der wogenden Volksmasse. Das ist ihr Geliebter! Jung, groß, blond! An ihn habe ich sie verloren. Er ist mein Erzfeind. Der Dieb meiner Erfüllung. Der Wolf, der mich jagt. Der räudige Hund, den ich mit den bloßen Händen erwürgen könnte.
Er winkte ins Zimmer. Zwei seiner Begleiter, Beamte des KGB, aus Moskau mitgekommen, um in Prag die Säuberungszentrale gegen die tschechischen Intellektuellen aufzubauen, traten neben Tschernowskij ans Fenster.
»Das Mädchen da … und den jungen Burschen … dort an der Tür des Funkhauses, der sich jetzt die Fahne vor die Brust hält … sie sind wichtig! Sie brauche ich!« Tschernowskijs Stimme zitterte stark. »Verhaften Sie sofort die beiden!«
Die KGB-Männer sahen sich schnell an und wandten sich dann wieder der Straße zu. »Wen?« fragte der Mann neben Tschernowskij.
»Sie Idiot! Das Mädchen mit den schwarzen Haaren! Da läuft es über die Straße!« Tschernowskij beugte sich aus dem Fenster. »Warum stehen Sie hier noch herum?«
»Es ist unmöglich, Genosse Oberst, daß wir hier jemand verhaften.«
»Was sagen Sie?« Tschernowskij fuhr zurück. Seine Augen sprühten Feuer. »Sind Sie verrückt geworden, Kusma Alexejewitsch?«
»Wir haben von der Zentrale den Befehl, nur zu beobachten und so unauffällig wie möglich zu sein. Wir haben gar keine rechtliche Grundlage, hier jemanden zu verhaften …«
»Recht!« Tschernowskij schrie das Wort heraus wie das Aufbrüllen eines Bären. »Ich bin das Recht! Ich verantworte es vor jedem, auch vor dem Obersten Sowjet! Das Mädchen da unten ist eine abgefallene Agentin, es ist Valentina Kysaskaja! Laufen Sie, Kusma! Ich mache Sie persönlich dafür haftbar, wenn in wenigen Minuten Valentina nicht vor mir steht!«
Er rannte zurück zum Fenster und beugte sich hinaus, aber schnell fuhr er zurück und suchte Deckung an der Wand. Die Kette der Rotarmisten war aufmarschiert und schoß in die Luft und in die Hausfassaden. Valentina und ihren
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