Bluthochzeit in Prag
gehen, Leutnant Muratow«, sagte sie dabei.
»Unmöglich! Mit dieser Verletzung? Nie!«
»Aber ich muß nach Horni Vltavice!«
»Sie müssen ruhig sein … sonst nichts.« Muratow erhob sich von der Bettkante, und Irena war es klar, daß sie mit Gewalt nie aus diesem Zelt herauskam. Mit einem Russen muß man verhandeln, bis sich eine Gelegenheit bietet, ihn zu überlisten … überzeugen kann man einen Russen nie. »Ich werde Ihnen etwas zu essen holen. In einer Stunde kommt der Feldscher und sieht die Wunde noch einmal an.«
Leutnant Muratow lächelte sie an, und in dieser Sekunde erkannte sie, warum sie hier lag. In seinen Augen las sie es ganz deutlich, in seinem Blick, der über sie hinglitt, an ihren Brüsten, den Hüften und den schlanken Beinen ganz kurz verharrte und dann wieder zu ihren langen blonden Haaren zurückfand. »Das Bein kann sich entzünden, anschwellen, eine Blutvergiftung kann entstehen. Dann muß man Ihnen das Bein amputieren … schrecklich, so etwas zu denken. O nein, Irena. Sie werden bei uns bleiben, solange es der Feldscher anordnet. Und wenn Sie Fieber bekommen, hole ich den Arzt.«
»Ich bekomme kein Fieber –«
»Wer weiß das im voraus, Irena.« Er ging zum Ausgang und schob die Türplane zur Seite. »Ich bringe Ihnen Tee, etwas Wurst und Brot.«
Seufzend ließ sich Irena auf das harte Kissen fallen, das man ihr unter den Nacken geschoben hatte. Sie schob den Rock über ihre Beine und tastete den Verband ab. Der sowjetische Feldscher hatte sie mit einer Schiene verbunden, als habe sie einen komplizierten Bruch.
Es gibt nur eine Möglichkeit, dachte Irena Dolgan, aus diesem russischen Lager hinauszukommen. Sie mußte einen tschechischen Arzt verlangen. Sie mußte solange auf Muratow einreden und protestieren, bis er sie nach Horni Vltavice brachte, und wenn es mit einem sowjetischen Jeep war. Konnte sie erst einmal einen Arzt sprechen, so war vieles gewonnen. Es gab genug junge Leute, die es wagten, nachts bis zu Karel Pilny durchzubrechen und den im Fieber phantasierenden Lucek wegzutragen aus dem Wald, hinaus ins Leben.
Nur so ist es möglich, erkannte Irena. Laut protestieren! Mit politischen Verwicklungen drohen. Mit der Presse. Mit dem Rundfunk. Sowjetischer Offizier hält Mädchen fest und zwingt sie, in seinem Zelt zu bleiben. Jawohl, so wird man das hinausschreien! Es wird Komplikationen geben, Leutnant Muratow. Meldungen an den Kommandeur, eine Untersuchung. Wie lautete der Befehl von General Pawlowskij? Kein Aufsehen! Keine Provokationen! Nichts, was das Volk noch mehr erregen könnte! Es wird schlimm werden, Semjon Alexejewitsch, wenn erst in allen Zeitungen steht: Leutnant der Garde-Armee zwingt ein Mädchen, in seinem Bett zu bleiben! Ein Sturm der Entrüstung wird über das Land fegen. Und Sie werden nach Moskau geholt, Muratow. Zur Meldung, zum Bericht, zur Bestrafung …
Fast tat er ihr leid, der große blonde Junge aus Kiew, als Irena sich diesen Plan fest vornahm. Er war ein höflicher Mensch, und er war verliebt. Wer konnte ihm das übelnehmen?
Semjon Alexejewitsch hatte wenig Erfahrung mit Frauen. Er stammte aus einem guten Elternhause, sein Vater war Besitzer einer kleinen Fabrik für Hosenträger und Gummilitzen, die allerdings schon 1925 enteignet wurde. Semjon Alexejewitsch besuchte die besten Schulen, machte sein Abitur mit der Note sehr gut und wollte Medizin studieren. Aber da hatte Vater Alexej einen guten Gedanken. »Man muß an den Fortschritt und an Morgen denken, mein Sohn«, hatte er gesagt. »Einen Arzt braucht man immer, natürlich, aber es macht oben bei den Maßgebenden immer einen guten Eindruck, wenn man eine Uniform mit breiten Schulterstücken und Sternen getragen hat. Geh erst zum Militär, mein Sohn, werde Offizier und studiere dann Medizin auf Kosten der Armee. Wir haben dann zweierlei gewonnen: Du bist angesehen, und uns kostet es kein Geld mehr.«
Also wurde Semjon Soldat, besuchte die Offiziersschulen in Moskau und Frunse, machte alle Prüfungen mit Auszeichnung und kam als Leutnant zur Garde. Der alte Muratow in Kiew war stolz auf seinen Semjon, zeigte überall sein Bild und eine Fotokopie der Akademiezeugnisse und verkündete, daß hier etwas Seltenes heranwachse: Ein großer Arzt und ein großer Soldat. Genossen, seid ehrlich: Wo gibt es solches schon in einer Person?
Was Liebe sein konnte, das hatte Muratow noch nicht erfahren. Er stellte sie sich romantisch vor, mit Herzklopfen, Rotwerden und Suchen nach Worten. Er
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