Bluthochzeit in Prag
macht sie auch etwas müde. Sie haben fast zwanzig Stunden geschlafen.«
»Was habe ich? O mein Gott!« Irena zuckte hoch, aber Muratow drückte sie sanft und doch energisch auf das Bett zurück. »Ich kann hier nicht liegen und schlafen! Wo bin ich denn überhaupt?«
»Im Lager des 3. Bataillons der 1. Garde-Panzerarmee.«
»Sie haben hier Ihre Stellung bezogen?«
»Nur zwei Bataillone. Wir kontrollieren die deutsche Grenze. Wir werden verhindern, daß man heimlich Waffen in die CSSR schafft.«
»Aus der Bundesrepublik?«
»Ja.«
»Sie glauben diesen Blödsinn?«
»Man hat es uns gesagt, und ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln.« Muratow zertrat seine abgerauchte Zigarette auf dem Boden. »Wer sind Sie?«
»Ich wohne hier … bei Verwandten … Ich bin Studentin.«
»Sie sind Deutsche?«
»Ja.«
»Woher?«
»Aus Leipzig«, sagte Irena schnell. Sie nannte die Stadt, weil sie ihr gerade einfiel. Muratow nickte lächelnd.
»Ich kenne Leipzig. Sehr schön. Aber Kiew ist schöner.«
»Sie kommen aus Kiew?«
»Ja.«
»Sie sprechen ein fabelhaftes Deutsch.«
»Ich habe es auf dem Gymnasium gelernt und dann viele deutsche Bücher gelesen. Goethe, Heine, Schiller … vor allem Schiller …« Muratow holte eine Packung Zigaretten aus der Tasche und hielt sie Irena hin. Sie schüttelte den Kopf, und er steckte sich eine neue Papyrossa an, nachdem er das lange Pappmundstück zweimal zusammengekniffen hatte. »Ich bin Semjon Alexejewitsch Muratow«, sagte der junge Leutnant mit den großen blauen Augen und dem blonden Lockenkopf.
»Ich heiße Irena Dolgan.«
»Irena … fast ein russischer Name …«
»Ja … fast …«
Sie sah zu dem flatternden Zeltdach hinauf und dachte an Pilny und Micha Lucek. Zwanzig Stunden habe ich geschlafen … was ist in diesen Stunden alles geschehen? War Micha schon gestorben? Was tat Karel? Kroch er aus seinem Versteck, getrieben von der Sorge, was aus Irena geworden war? Lief er geradewegs in die Wachen der Sowjets, die am Drahtzaun Tag und Nacht patrouillierten?
Sie versuchte erneut, sich aufzurichten und die Beine vom Bett zu schieben.
»Ich kann hier nicht liegen!« sagte sie, als Muratow sie wieder an der Schulter niederdrücken wollte. »Keiner weiß doch, wo ich bin. Meine Verwandten … sie sterben vor Sorge …«
»Ich werde ihnen eine Nachricht bringen lassen. Einen Meldefahrer schicke ich hin.«
»Unmöglich!«
»Warum?«
»Wenn plötzlich bei ihnen ein Russe auftaucht –«
Irena schwieg abrupt. Erst als sie den Satz ausgesprochen hatte, begriff sie, daß es eine Beleidigung war. Die blauen Augen Muratows wurden traurig, wie bei einem Kind, das sich ein Eis kaufen will und erfährt, daß es keines mehr gibt.
»Sie mögen uns nicht, nicht wahr?« sagte Muratow leise. »Alle Menschen hier verfluchen uns. Warum nur? Ich begreife das nicht. Wir sind doch gekommen, um sie vor dem westlichen Imperialismus zu beschützen. Wir wollen ihnen helfen. Aber sie drohen uns, sprechen nicht mit uns oder stellen sich uns in den Weg und nennen uns Nazis. Wer soll das begreifen?«
»Sie sind in ein Land eingefallen, das Frieden wollte.«
»Man hat uns gerufen!«
»Nein! Niemand hat Sie gerufen.«
»Das hat man uns gesagt. Die Regierung hat um Beistand gegen die westdeutschen Bedrohungen gebeten.«
»Das ist eine Lüge, Leutnant Muratow. Dieses Land hat seit dem Frühjahr eine andere Ansicht vom Kommunismus und Sozialismus praktiziert. Es hat bewiesen, daß Presse- und Redefreiheit, Menschenrechte und persönliche Freiheit sich sehr gut mit den Ideen des Kommunismus vereinbaren lassen. Dieses Land war ausgebrochen aus dem starren Leninismus … es führte der staunenden Welt vor, daß es auch einen westlichen Kommunismus gibt, der besser ist als der östliche. Und dann kamt ihr mit euren Panzern, Flugzeugen und Geschützen, um wieder den Zwang einzuführen, um den Frühlingswind wegzublasen, der vielleicht auch die Sowjetunion erreicht hätte. Ihr hattet Angst vor dem Tauwetter … und diese Angst war größer als jedes Völkerrecht, als euer Ansehen in der Welt. Die Angst warf Rußland um zwanzig Jahre zurück.«
»Das ist nicht wahr!« Muratow warf seine Zigarette weg. Über sein Jungengesicht lief ein schnelles Zucken. »Das ist westliche Propaganda, was Sie da sagen! Angst! Wir sind die stärkste Nation der Welt! Wir sind unbesiegbar.« Triumphierender Stolz klang aus diesen Worten.
Irena gelang es, den gesunden Fuß auf die Erde zu setzen. »Lassen Sie mich
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