Blutholz: Historischer Roman (German Edition)
ihrer Krone auf den urmassigen Stamm, der an keiner Stelle versehrt, mit handtief zerschrundeter Rinde allen Angriffen der irdischen Natur gelassen standhielt. Vier Männer hätte es gebraucht, diesen Stamm zu umarmen. Ihre Blicke in die Krone aber wären zerrieben worden, denn kein Auge hätte es vermocht, sich im Gespinst von Zweigen und Blättern zurechtzufinden. Bei Sonnenschein wirkte die Aura dieses Baums wie ein Balsam für das Gemüt und selbst der abergläubische Frömmler hätte es als Humbug verworfen, dass die Eichenblätter deshalb eingebuchtet seien, weil der Teufel aus Wut über eine ihm vorenthaltene Seele mit seinen Krallen einst durch alle Eichen der Welt gerast sei.
Wenige Uralte in den Dörfern meinten noch davon gehört zu haben, dass diese Eiche einmal als Pilgerstätte der Heiligen Jungfrau verehrt worden war. Schon in ihren Kindertagen aber hätte kein Gnadenbild mehr am Stamm gestanden und an Votivtäfelchen wollten sie sich auf Treu und Glauben auch nicht mehr recht erinnern. Denn wie auch! Waren es doch achtzig Jahre her! Sollten sie jetzt mehr wissen als ihre Eltern, die aus ganz fremdem Gebiet gekommen waren? Damals, als der Dreißigjährige Krieg hier fast alle Dörfer des Kaiserstuhls entvölkert hatte? Nein, das konnten sie nicht, denn so weit zurück reicht die Erinnerungskraft des Menschen nicht. So stand der Baum da als Wunder Gottes, allen zur Besinnung und stillen Einkehr gepflanzt. Ein Zeichen der Verbundenheit und eins der Mahnung. Das genügte, und so dachten sie, die Uralten, die niemand mehr fragte.
6
Der Tag hatte schlecht angefangen und ging schlecht weiter. Alles hatte sich heute gegen ihn verschworen – selbst dieser Baum. Das erste Mal in seinem Leben verwünschte der frisch verheiratete Winzer Valentin Schnitzer den Oberrotweiler Baumriesen, denn er saß in seiner Krone jetzt genauso in der Falle wie der sprichwörtliche Hase in der Grube. Ihm blieb nur übrig, erst einmal abzuwarten. Wie ein geschossenes Stück Flugwild vom Ast zu fallen und vor diesem Grenadiertrupp davonzurennen, sähe nämlich nicht nur feige aus, sondern gäbe mit Sicherheit den besten Grund ab, ihn festzuhalten. Also besser ausharren und auf Gott vertrauen. Alles sah so aus, als wäre dies die Strafe dafür, dass er sich gegen seinen Willen zu diesem Unfug hatte breitreden lassen. Misteln zu schneiden! Ein Einfall von Jacob, Maria in den Kopf gesetzt, der lieben Zwietracht wegen. Misteln zu einem Kranz geflochten brächten Glück, hatte der Maria eingeredet – natürlich nur die seltenen Eichenmisteln. Und er, Valentin, könne ja als frischgebackener Ehemann und Hausherr, dem das Glück eine Erbin beschert hätte, gleich welche für seine Tochter suchen. Einen billigeren und fürs Leben wertvolleren Taufschmuck gäbe es doch gar nicht. Noch vor dem Aufstehen hatte Maria ihm damit solange in den Ohren gelegen, bis er nachgegeben hatte – schon deshalb, um beim Frühstück nicht noch einmal Jacobs verlogene Anbiederung bei Maria ertragen zu müssen. Bruder und Weib waren also schuld, dass er während dieses kindischen Gekletters jetzt von den Franzosen überrascht worden war – für nichts und wieder nichts, denn wie zu erwarten gewesen war, hatte er bis jetzt nicht den kleinsten Mistelzweig abschneiden können.
Angespannt und mit wachsender Angst verfolgte Valentin den stetig hangaufwärtsrückenden Trupp. Vielleicht hätte er nach dem ersten Schreck kurz entschlossen die Deckung des mächtigen Stammes ausnützen sollen! Und wahrscheinlich wäre er auch entkommen, aber bei dieser Luft stand zu befürchten, dass einige von den Kerlen sich mit ein paar Schüssen abreagieren würden. Immerhin war Krieg und die Franzosen hatten den Österreichern für letztes Jahr noch einiges zu vergelten.
Auf Hörweite waren sie jetzt. Böse klang das Keuchen, gereizt und verärgert. Im Rhythmus der erschöpften Schritte klirrte das ans Tragegeschirr geschnallte Marschgepäck. Die meisten Feldflaschen mussten bereits leer sein, so heftig schlenkerte sie den Soldaten an den Hüften.
Sofort nachdem die ersten unter das Dach der Krone gelangt waren, schmissen sie sich mit vollem Gepäck ins Gras. Als wären sie bei einem Gefecht zusammengeschossen worden, lagen zwei Dutzend Grenadierleiber für kurze Zeit in unterschiedlichsten Gebilden auf der Erde. Doch ihr Sergent scheuchte sie mitleidlos wieder auf.
»Bei der Armee hält man auf Ordnung, ihr Faulärsche!« blaffte Jobst Brüssler. »Hoch, verdammt!
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