Blutige Küsse und schwarze Rosen
handschriftlich verfassten Zeilen vor:
„Der Plan droht zu scheitern. Nach all den Jahren, in denen wir ihn aufgezogen und mit Nahrung versorgt haben, ist Nico uns aus den Fingern geglitten. Töricht, wie er ist, hat er einen Menschen gebissen. Nicht aus Blutdurst, sondern der Verwandlung wegen. Er erschuf einen Vampir. Elias, Anfang zwanzig. Nach reichlicher Überlegung habe ich den Entschluss gefasst, ihn an Nicos Stelle zu verwenden. Somit kann das Ritual noch zeitnah stattfinden – mit Elias als Darbringung. Bis dahin muss der Junge im Auge behalten werden. Ein weiterer Verlust würde uns auf die Suche nach einer neuen Opfergabe zurückwerfen.“
Nico hielt mitten im Absatz inne, schloss die Lider und lehnte den Kopf nach hinten gegen die unebene Wand.
„Das alles ist meine Schuld.“ Er klang unendlich müde. „Du hattest die ganze Zeit über recht. Ich konnte es nur nicht glauben. Wollte nicht glauben, dass Elisabeth und Melchior nicht die sind, für die ich sie hielt. Sie waren die ersten Menschen in meinem Leben, denen ich vertraute. Wäre ich nur nicht so naiv, gutgläubig und blind gewesen.“
„Sag das nicht“, bat Elias. Ihm bereiteten Nicos Anblick und seine Worte Schmerzen. Trotz des Vertrauens, das sie einander stets entgegenbrachten, hatte Nico nie viel über seine Vergangenheit geredet und das Thema jedes Mal gewechselt, wenn es drohte, zur Sprache zu kommen. Elias hatte zwar immer schon geahnt, dass sein früheres Leben Grund für die unnahbare Art sein musste – die Nico nur ihm gegenüber ablegte –, dennoch versetzte ihm das Wissen darüber, dass sein Freund niemanden gehabt hatte, dem er vertrauen konnte, einen Schlag in die Magengrube.
„Du hattest keinen, an den du dich in dieser schwierigen Zeit der Verwandlung hättest wenden können“, flüsterte Elias beruhigend. „Jeder hätte an deiner Stelle dasselbe getan und den Rat bei ihnen gesucht. Ihnen vertraut.“
Er nahm die Aufzeichnungen aus Nicos Hand und legte sie geschlossen beiseite. „Es hilft uns jetzt nicht weiter, zu erfahren, wie Elisabeth und Melchior vorgegangen sind. Wir müssen uns hierauf konzentrieren. Wenn es eine Möglichkeit gibt, den Fluch aufzuheben, dann steht sie hier drin geschrieben.“
Das von Brandspuren gezeichnete Buch in seinen Schoß gebettet, öffnete Elias den dicken Einband, der knarrend die erste Seite freigab. Wie die anderen Aufzeichnungen war auch der Text dieses Buches handschriftlich verfasst worden. Allerdings handelte es sich dieses Mal um keine Sprache, die Elias lesen konnte. Sauber geschwungen erstreckten sich kyrillische Buchstaben über unzählige Zeilen hinweg. Sie füllten Hunderte von Seiten, ohne dabei aber ihren Inhalt zu offenbaren.
„Das könnte Russisch sein“, überlegte Elias laut und sah sich die Niederschrift genauer an, als würde sie dadurch mehr Sinn ergeben. „Oder vielleicht …“
„Es gibt wahrscheinlich ein Dutzend Sprachen mit solcher Schrift.“ Nico zog mutlos die Knie an seinen Körper und legte beide Arme um sie, als wäre ihm kalt. „Lesen können wir keine davon, geschweige denn verstehen.“
„Also müssen wir jemanden finden, der es kann“, entgegnete Elias und klang dabei zuversichtlicher, als er war. Nach einem letzten Blick über die Buchstaben schloss er das Buch und legte es auf dem Boden ab. Seine Gedanken eilten in alle Richtungen, suchten nach einer entscheidenden Idee, einem plötzlichen Einfall. Doch die vergangene Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen, sandte eine lähmende Müdigkeit durch seinen Körper und machte jede geordnete Überlegung zunichte.
„Du solltest ein wenig schlafen“, riet Nico plötzlich. „Die letzten Ereignisse haben dich sehr geschwächt. Geh nach Hause und ruh dich aus. Ich warte hier. Wo sollte ich während des Tages auch hin?“ Er versuchte sich an einem schiefen Lächeln, nur wirkte dieses eher gequält.
„Glaubst du allen Ernstes, ich würde dich hier allein zurücklassen?“ Elias bedachte seinen Freund mit einem entrüsteten Blick und erkannte die Erleichterung, die Nico bei dieser Reaktion durchströmte.
„Dann hau dich zumindest hier kurz aufs Ohr“, schlug der vor und seine Worte ließen keinen Widerspruch zu, als er auf die zusammengeschobenen Matratzen deutete.
Es dauerte eine Weile, bis Elias der Aufforderung nachkam und sich hinlegte. Weder wollte er Nico jetzt sich selbst überlassen – obgleich er körperlich bei ihm blieb –, noch wollte er dort schlafen, wo einst
Weitere Kostenlose Bücher