Blutige Nacht: Roman (German Edition)
Namen erinnern …«
»Vin Prince.«
»Genau der. Sie haben bei diesem Arschloch gewohnt, und eines Tages, als ihre Schwester nicht da war, hat er sich mit Meth zugedröhnt und Raya dann vergewaltigt. Ihre Schwester platzt mitten rein, sieht die beiden zusammen und stellt sich auf seine Seite. Hat Raya rausgeworfen, weil sie mit ihrem Freund gevögelt hat. Wie abgefuckt ist das bitte schön?«
Das ist ganz schön abgefuckt – wenn es stimmt. Mein Blut gerät langsam in Wallung, wenn ich daran denke, wie stark ich dagegen angekämpft habe, Prince nicht umzubringen, und das, wo ich der Welt, wie sich herausstellt, damit wohl einen Gefallen getan hätte.
»Bist du denn zur Polizei gegangen, als Raya verschwunden ist?«
»Nein, warum sollte ich?«
»Deine Freundin ist verschwunden.«
Trotz der Waffe lacht der Typ und sieht mich an, als ob ich leicht zurückgeblieben wäre. »Also ehrlich, Mann. Den verdammten Bullen sind wir Straßenkids völlig egal, es sei denn, sie können einen von uns wegen Drogen einlochen. Wenn einer von uns tot aufgefunden wird, dann kontaktieren sie gerade mal die Familienangehörigen. Scheiß auf die Bullen.«
»Alles klar.« In gewisser Weise tut mir der Bursche leid. Er sieht nicht nach einem schlechten Kerl aus, nur nach einem, der verdammt noch mal kein Glück hat. Ich stecke das Foto und die Waffe wieder ein und hole ein paar von den Scheinen heraus, die Reesa mir gegeben hat. Ich ziehe einen Zwanziger aus dem Bündel. »Hier, für deine Mühe.«
Seine Augen werden groß und gierig, als er den Schein sieht. Er ist im Begriff, danach zu greifen, hält dann aber inne wie ein Streuner, dem eine Hand Essen reicht, die ihn schon zu oft geschlagen hat. Sein Blick wird argwöhnisch, und er fragt sich, was ich wohl als Zugabe für die Kohle haben möchte.
»Na los, nimm schon. Es gehört dir, ohne irgendeine Verpflichtung.«
Ungläubig nimmt er den Schein mit beiden Händen. »Boah ey, danke. Das kann ich echt gebrauchen. Danke, danke, Mann.«
Ich nicke und wende mich ab.
»Hey«, sagt der Bursche, worauf ich an einer scharfkantigen Ecke des Müllcontainers innehalte. »Wenn du diesen Typen siehst, diesen Vin, richte ihm von mir aus, dass er ein verdammtes Arschloch ist, okay?«
»Klar, Junge.«
Dann bin ich weg.
Für gewöhnlich gleicht der Schlaf von Vampiren dem Tod; vollständiges Eintauchen in die schwarzen Gewässer des Vergessens, wo es kein Licht gibt, kein Bewusstsein, keine Träume. Deshalb sind Vampire in schlafendem Zustand so verletzlich. Weil es mehr ist als nur Schlaf. Bisweilen dringt aber dennoch ein Traum hindurch. Vielleicht, weil ich mich mit dieser Lady getroffen habe. Vielleicht aufgrund der unerwarteten Nostalgie, die sich durch die Stationen, die ich heute besucht habe, eingestellt hat. Vielleicht, weil ich im Club mit dem dürren Mädchen über sie gesprochen habe, wodurch eine vergessene Erinnerung wieder ausgegraben wurde. Aus welchem Grund auch immer – heute Nacht träume ich. Einen Traum von der Vergangenheit. Von 1943. Und von einer überraschenden Wendung namens Coraline.
Kapitel 5
1943
D ie Geschichte mit Coraline fing mit einer Kugel an.
Wie bei tausend anderen Kleinstadt-Schönheitsköniginnen, denen man ihr ganzes Kleinstadtleben lang gesagt hatte, sie seien schön genug fürs Kino, kam auch sie auf der Suche nach Ruhm und Reichtum nach Hollywood.
Als Kind war Der Zauberer von Oz ihr Lieblingsbuch gewesen. Ich kann mich daran erinnern, wie sie mir erzählte, sie hätte es wieder und wieder gelesen, bis die Seiten quasi verwelkt wären und herausgefallen seien wie Blütenblätter aus einem vertrockneten Strauß. Der einzige Teil, der ihr nicht gefallen hatte, war das Ende, als Dorothy nach Hause zurückkehrt. Coraline erzählte mir, sie hätte dieses Kapitel nach dem ersten Lesen herausgerissen. Hätte gedacht, Dorothy sei eine dämliche Ziege, Oz für Kansas aufzugeben. Eine dämliche Ziege. Das waren ihre Worte.
Vielleicht faszinierte dieses Buch sie aus dem einfachen Grund, dass sie, genau wie Dorothy, ein Mädchen aus einer Kleinstadt in Kansas war. Vielleicht war es auch etwas düsterer als das. Etwa wie der taumelnde Trunkenbold von Vater, mit dem sie nie redete und von dem sie sich zu erzählen weigerte. Was auch immer der Grund war, Coraline wusste schon in ganz jungen Jahren, dass sie auf Teufel komm raus von dort wegwollte. Sie erwartete etwas anderes vom Leben. Etwas Größeres. Und das führte sie im März ’43 nach
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