Blutige Nacht
Rekord.
Als sie mich an Coraline vorbei hinausführten, starrte ich tief in ihre Augen, die so hell leuchteten wie eine Schweißerflamme. Der Ausdruck darin war ein heftiger Tornado von Liebe, Sorge und Erleichterung. Ich starrte sie an, bis sie mich aus dem Gerichtssaal zerrten und ich sie nicht weiter anstarren konnte.
Dann wartete ich darauf, zu sterben.
Die Zeit vergeht sehr langsam im Todestrakt von San Quentin. Das könnte eigentlich etwas Gutes sein, wenn man bedenkt, was einen am Ende erwartet, ist es aber nicht. Zu wissen, was auf einen zukommt, macht einem nur unmissverständlich die Sinnlosigkeit der endlosen Tage klar. Tage stapeln sich zu Wochen, zu Monaten, zu Jahren wie ein Kartenhaus und sind genauso überflüssig.
Die ganze Zeit über habe ich nichts von Coraline gehört. Kein Anruf, kein Brief. Ich hatte nichts – und davon sehr viel. Ich denke, viele Typen hätte das verletzt, wenn man es sich genau überlegt, aber ich habe ihr das nicht verübelt. Ich habe mich darüber gefreut, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich hatte nicht all das aufgegeben, was ich aufgegeben hatte, dass sie ihr Leben damit verschwendete, den Toten nachzuweinen. Ich wollte, dass sie lebte. Während der endlosen, unzähligen Stunden, in denen es nichts zu sehen oder zu tun gab, stellte ich mir ihr Leben in immer neuen Varianten vor: Gestylt und ihr gutes Aussehen und ihr Talent nutzend als Schauspielerin in einem Film, oder als Weltreisende, dabei, Dinge zu besichtigen, die ich niemals zu sehen bekommen würde, oder wie sie mit irgendeinem Durchschnittstypen, der sie abgöttisch liebte, eine Familie gründete. Sehen Sie, mir war ganz egal, was sie tat, Hauptsache, sie nutzte mein Opfer. Wofür auch immer. Das schien mir nicht zu viel verlangt.
Doch ich nehme an, dass es das war.
Gegen Ende des Jahres 1945 – im November, wenn ich mich recht erinnere – fiel mir ein kurzer Artikel in der bereits eine Woche alten Times auf, die ich in die Finger bekommen hatte. Der Artikel handelte davon, wie Arbeiter bei der städtischen Mülldeponie den zum Teil entkleideten Körper einer jungen Frau gefunden hatten. Die Leiche wurde später als die von Coraline Angel identifiziert, dieselbe Coraline Angel, die als unfreiwillige Mittäterin in dem schockierenden Mordfall Roy Mcardle in die Zeitungen gekommen war. Man spekulierte, dass sie sich als Heroinabhängige und Prostituierte in einem der vielen Bordelle im Osten von Los Angeles, die seit Beginn des Krieges aufgetaucht waren, eine Überdosis verpasst hatte und dann vermutlich von den anderen Junkies entsorgt worden war, die hofften, so nicht in Konflikt mit dem Gesetz zu geraten.
Ich habe den Artikel bestimmt fünfzigmal gelesen. Hundertmal. Ich konnte mich einfach nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass Coraline tot und das alles hier umsonst gewesen sein sollte. Sie hatte nichts Sinnvolles mit der Chance angefangen, die ich ihr verschafft hatte. Überhaupt nichts Sinnvolles. Und wenn dem so war, dann war ich ein Naivling, es getan zu haben. Schlimmer noch, ich konnte mir keine Hoffnung mehr für sie machen oder mich wegen meiner wahrhaft selbstlosen Tat während meiner verbleibenden Tage gut fühlen. Ich glaube, deswegen habe ich sie am allermeisten gehasst.
Es gab nichts mehr für mich. Am nächsten Tag kümmerte ich mich um mein Sterben. Ich rief meine Anwälte an und bat darum, die verbleibenden Einsprüche nicht geltend zu machen. Ich musste sie nicht lange überreden. Das Datum wurde festgesetzt, und ich freute mich darauf wie ein Kind auf Weihnachten.
Während meiner ganzen Zeit im Todestrakt bekam ich nur einmal Besuch, und das war am Abend vor meiner Hinrichtung. Der Gefängnisdirektor erschien höchstpersönlich in meiner beengten Zelle, in der ich auf den Tod wartete, um ihn mir anzukündigen.
»Sie haben Besuch, Angel.«
Ich habe von meinem lakenlosen Einzelbett aufgesehen, als die Tür zurückschwang und eine Nonne mit gesenktem Blick eintrat, das Gesicht im Schatten verborgen.
»Lassen Sie uns bitte allein«, flüsterte sie dem Direktor zu.
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Schwester. Der hier ist ein Killer.«
Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn an. »Lassen Sie uns allein.«
»Allein lassen …«, murmelte er.
Als er ging, fiel die Tür hinter ihm ins Schloss, die Nonne drehte sich um, nahm ihre Haube und ihren Schleier ab, und ich starrte erschüttert in Coralines Gesicht.
»Hallo, Geliebter.«
Selbst im Dunkeln konnte
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