Blutige Nacht
ich erkennen, dass sie noch genauso schön war, wie ich sie in Erinnerung hatte – noch schöner. Aber ein paar Dinge waren anders, augenfällige, verstörende Dinge. Selbst zur schlimmsten Zeit ihres Heroinmissbrauchs hatte sie immer füllig und gesund ausgesehen, jetzt war sie hager und krankhaft dürr, ihre Haut ein Tuch, das straff über ihr Knochengerüst gespannt war. Ihr schwarzes, glänzendes Haar, das sie immer zur Perfektion gestylt hatte, als ich sie kennenlernte, umrahmte als verworrene Mähne ein Gesicht von fast strahlender Blässe. Doch das Schlimmste von allem war wahrscheinlich, dass ihre Augen, die immer so übersprudelnd vor Leben gewesen waren, jetzt nur matt leuchteten, als ob die weitreichendere Erkenntnis von dunklen, verborgenen Geheimnissen ihre Seele abgenutzt hätte.
»Du bist tot, das habe ich in der Zeitung gelesen.«
»Man sollte nicht alles glauben, was man liest, Mick.«
Sie lächelte, aber etwas stimmte nicht. Etwas an ihr war anders als sonst, etwas Schreckliches, Verkehrtes. Mit der nervösen Anspannung eines Pferdes, das den Geruch eines Angreifers im Wind witterte, verspürte ich das plötzliche Verlangen, aufspringen zu müssen, aber ich konnte nirgendwohin.
»Ich habe dich vermisst«, sagte sie und zog mich an sich.
So, wie sie aussah, hatte ich eine zerbrechliche Umarmung erwartet. Aber die schmächtigen Arme, die mich festhielten, fühlten sich an wie Stahlbänder. Ich wollte sie von mir wegdrücken, widerstand aber der Versuchung durch den Gedanken, jedes Zeichen von Furcht könnte diese schrecklichen Arme mit der zerschmetternden Kraft einer Bärenfalle zuschnappen lassen und mich niemals wieder freigeben. Als sie mich schließlich losließ, fühlte ich mich wie eine Fliege, die gerade noch einmal dem Netz einer sich nähernden Spinne entkommen war.
Ich nahm an, man konnte es an meinem Gesicht ablesen, denn sie sagte: »Stimmt etwas nicht? Freust du dich nicht, mich zu sehen, Liebling?«
Sie versuchte es mit einer Schnute, aber das war auch etwas, das anders war. Coraline war immer eine sehr gute Schnutenzieherin gewesen. Weltklasse. Das hier war nichts im Vergleich dazu. Betrug. So fabrikmäßig wie der Orgasmus einer Nutte. Die neue Coraline lag auf der Skala von dummer Schulmädchenmanipulation ziemlich weit hinten.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass du hier bist«, hörte ich mich selbst sagen.
»Natürlich bin ich hier. Du glaubst doch nicht etwa, ich würde zulassen, dass sie den Mann, den ich liebe, hinrichten, ohne dass ich ihn ein letztes Mal besuche, oder?«
»Bist du hergekommen, um mir das zu sagen? Dass du mich noch immer liebst?«
»Auch. Ich habe dich immer geliebt, Mick. Für mich hat sich einiges geändert, aber das nicht. Doch es gibt noch einen anderen Grund.«
»Und der wäre?«
»Du hast dein Leben für mich geopfert. Das habe ich nicht vergessen. Ich bin gekommen, mich zu revanchieren.«
»Aha, und wie willst du das anstellen?«
»Ich kann veranlassen, dass sie dich nicht umbringen.«
»Lass mich raten – du hast eine Aussetzung der Vollstreckung des Gouverneurs in deinem Büstenhalter versteckt?«
»Warum siehst du nicht selbst nach?« Sie ergriff meine Hand und schob sie unter ihr Gewand. Der Spaß ging auf meine Kosten. Sie trug keinen BH. Ihre Brüste fühlten sich seltsam kalt an, doch wenn man bedachte, dass meine Hände in den letzten drei Jahren auch nicht nur annähernd in die Nähe solcher Brüste gekommen waren, verspürte ich nicht das Bedürfnis, darüber nachzudenken. Nicht einmal in ihrem aktuellen Zustand.
»Das ist nicht gerade sehr nonnenhaft von dir.«
»Ich fürchte, dass ich keine sehr gute Nonne bin … genau genommen bin ich überhaupt keine Nonne.«
»So? Und was bist du dann?«
Coraline verwandelte sich vor meinen Augen. Ihre Augen wurden dunkel und blutunterlaufen, ihre Eckzähne lang, und ihr Kiefer löste sich aus der Verankerung. Nichts bereitet einen darauf vor, das Unmögliche zu sehen, zu realisieren, dass die Welt nicht so ist, wie man sie sich vorgestellt hat. Als ich voller Entsetzen vor ihr zurückwich, sah ich, wie ihre Gesichtszüge sich veränderten, wieder ihre vollkommene Form annahmen, und dann stand Coraline erneut vor mir. Wie zuvor, nur ihre Augen blieben schwarz und schrecklich.
»Oh, mein Gott!« Ich versuchte mir eine schlimmere Situation vorzustellen, als mit einem Monster in einer Hochsicherheitszelle gefangen zu sein, doch mir fiel absolut nichts ein.
»Tut mir leid,
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