Blutige Rosen
gut. Ernest Goring konnte wirklich zufrieden sein. Er hatte inzwischen zehn Leute angestellt, die außer ihm und seinem Sohn noch mitarbeiteten. Er selbst wohnte mit seiner Familie am Stadtrand von London, denn in Henley-on-Thames war es ihm zu einsam. Dafür lebten seine Angestellten in dem Ort.
In letzter Zeit allerdings war es zu Unregelmäßigkeiten gekommen. Man hatte das Fehlen von Freilandrosen entdeckt. Ausgerechnet die gelben Züchtungen, die auf einem Extrafeld wuchsen. Irgend jemand musste sie gestohlen haben.
Kein großer finanzieller Verlust, nur ein Nadelstich. Zudem wollte Goring nicht, dass Stehlen Schule machte, und er beauftragte einen vertrauenswürdigen Mann, sich des Nachts doch einmal auf dem Gelände umzuschauen.
Der Mann hieß Victor und stand kurz vor der Pensionsgrenze. Er gehörte zu den Menschen, die für Chef und Firma durchs Feuer gingen. Er hatte noch die erste Phase der Aufbauarbeit miterlebt. Victor war absolut vertrauenswürdig. Er würde den oder die Diebe schon stellen. Zudem hatte er noch seinen alten Militärkarabiner hervorgeholt. Ein Erbstück seines Vaters.
Um zweiundzwanzig Uhr begann er seinen Dienst. Er holte seinen Drahtesel aus dem Schuppen - das Gewehr hing über seiner Schulter -, und so radelte er zur Gärtnerei.
Die Nacht war ruhig. Da der Wind aus einer anderen Richtung blies, konnte er nicht einmal das Rauschen der Themse hören, das ihn so oft auf seinen Fahrten begleitete.
Angst kannte der knorrig wirkende Victor nicht. Wenn der Dieb erschien, würde er ihm eins auf den Pelz brennen, der sollte schon das Laufen lernen.
Gelassen trat er in die Pedale und radelte über den alten Feldweg. In Schlangenlinien führte der am Flussufer entlang und endete an der Gärtnerei.
Es gab auch eine Straße. Doch sie zu benutzen, hätte einen Umweg bedeutet, zudem lenkte Victor sein Fahrrad am liebsten durch die wohlvertraute Flusslandschaft.
Da er dem Verlauf des Weges folgte, konnte er den Strom nur hin und wieder sehen. Dunkel war das Wasser. Nur manchmal, wenn Wellen aufeinander zuliefen, kam es zur Schaumbildung, und das Wasser spritzte wie kleine Perlen in die Höhe.
Der alte Drahtesel stöhnte und ächzte, wenn er bewegt wurde. Er war wirklich nicht mehr der Jüngste, doch Victor sah nicht ein, weshalb er sich ein neues Fahrrad zulegen sollte, wenn es das andere auch noch tat.
Konnte er den breiten Fluss nur hin und wieder sehen, so stand jedoch etwas immer vor seinem Auge. Der Turm!
Ein ängstlicher Mensch war Victor nicht. Man konnte ihn als Kind des Landes bezeichnen, und natürlich wusste er von den unheimlichen Geschichten, die man sich über den Turm erzählte. In den dicken Mauern sollte es spuken, weil die Geister der getöteten Männer und Frauen keine Ruhe fanden.
Er hatte noch nie welche gesehen und war auch nicht scharf darauf, aber er glaubte den Erzählungen. Es gab viele Dinge, die von den modernen Menschen so einfach abgetan wurden. Victor war da ein wenig vorsichtiger. Was sich über Hunderte von Jahren gehalten hatte, konnte doch nicht einfach aus der Luft gegriffen sein, da musste es einen realen Hintergrund geben, deshalb schaute er den Turm auch immer mit einem etwas skeptischen Blick an.
Dass der Rosendiebstahl und der Turm in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen könnten, darauf kam er nicht. Er zog es überhaupt nicht in Betracht. Der Turm und die Gärtnerei waren für ihn zwei verschiedene Paar Schuhe. Aber er sollte sich irren. Es war eine Nacht, die man als typisch englisch oder mit dem Wort ungemütlich umschreiben konnte. Zudem stand die Jahreszeit auf der Kippe. Der Winter war noch nicht verschwunden, und der Frühling wollte nicht so recht kommen. Der Wind blies aus Nordwest, zwar nicht allzu stark und kalt, doch Victor war froh, Handschuhe übergestreift zu haben, denn er hätte sonst klamme Finger bekommen.
An die Unebenheiten der Strecke hatte er sich längst gewöhnt. Sein Drahtesel schaukelte durch Querrillen, rumpelte über kleine Bodenerhebungen, und Victor wurde durchgeschüttelt. Er beugte sich im Sattel weit vor, um dem Wind wo wenig Widerstand wie möglich zu bieten.
Je näher er dem alten Turm kam, um so nervöser wurde er. Aus der Ferne wirkte er wirklich wie eine schlanke Zigarre oder wie ein Schornstein, von nahem jedoch war zu sehen, wie dick und gewaltig die Mauern waren. Das mussten sie sein, ansonsten hätten sie dem Sturm der Zeiten nicht trotzen können.
Noch einmal führte der Weg bergauf, und Victor
Weitere Kostenlose Bücher