Blutige Seilfahrt im Warndt
Verletzter kam nicht so lange ohne medizinische Hilfe aus. Und er würde auch nicht lebend aus diesem Stollen herauskommen. Trauer mischte sich mit Angst. Der Gedanke zu sterben jagte seinen Puls in die Höhe. Er war noch nicht bereit und doch sah er keine Chance mehr. Er hatte keine Kraft mehr, an den Fesseln zu zerren. Sein Kampfgeist hatte ihn verlassen. Er fühlte sich ausgelaugt, Durst machte sich quälend bemerkbar. Seine Mundhöhle war nicht nur ausgetrocknet, auch die Zunge fühlte sich angeschwollen an, sodass er es nicht mehr schaffte, Speichel anzusammeln. Auch wurde die Luft knapp, weil ihm in seiner großen Not immer wieder Tränen in die Augen stiegen und damit die Nasenschleimhäute ebenfalls anschwollen. Die Augen aufzuhalten fiel ihm immer schwerer. Und doch riss er sie immer wieder auf in der Hoffnung, seinen Freund Michael um die Ecke kommen zu sehen. Manchmal glaubte er, seine Gestalt wahrzunehmen. Doch jedesmal hatte es sich als Halluzination herausgestellt. Und sein verzweifelter Versuch zu schreien endete in einem erstickten, undefinierbaren Laut.
Sein Blick wurde verschwommen, bis alles wieder schwarz vor Augen wurde. Sein Kopf fiel nach vorne und Grewe versank im Nichts.
Schnur platzte in Andreas Zimmer und rief: »Es ist möglich, dass wir es tatsächlich mit Karl Fechter zu tun haben.«
Andrea brach ihr Telefonat abrupt ab und legte auf. Mit erstauntem Gesicht entgegnete sie: »Wie kommst du zu dieser Erkenntnis?«
»Es ist die Grenznähe, die wir ständig vor Augen haben und trotzdem nicht gesehen haben«, antwortete er. »Er könnte durch diese Strecke entkommen sein, durch die Kullmann und Anke gerade gehen, um Anton Grewe zu finden. Dieser Stollen führt nach Petite-Rosselle, das ist in Frankreich. Und wenn er all die Jahre unauffällig dort gelebt hat, hat das keiner von uns mitbekommen.«
»Das ist ja heimtückisch«, entgegnete Andrea. »Sind Anke und Kullmann schon darüber informiert?«
»Nein! Ich komme nicht mit ihnen in Verbindung. Deshalb fahren wie jetzt nach Velsen zu den Bergleuten der Grubenwehr. Von dort aus können wir zumindest mit den Männern der Grubenwehr unter Tage Kontakt aufnehmen und ihnen den neuesten Stand der Ermittlungen durchgeben.«
Sofort brachen sie auf. Auf dem Grubengelände herrschte ein Betrieb, als sei die Nacht zum Tag geworden.
»Wer ist hier der Verantwortliche?«, fragte Schnur einen der Männer, die sich im Fördermaschinenhaus versammelt hatten.
»Das ist der Truppführer. Er ist unter Tage«, lautete die Antwort.
»Und wer koordiniert die Arbeit von hier oben?«
»Ich!«
»Okay. Dann geben Sie den Männern dort unten bitte durch, dass wir hinter dem Unbekannten, von dem die Bergleute ständig sprechen, Karl Fechter vermuten.«
Schwellen lagerten an den Seiten des Stollens und erschwerten den Durchgang. Deren Oberschicht war bereits mit Schimmel überzogen. Dahinter stapelten sich Rohre in unterschiedlichen Durchmessern und aus verschiedenen Materialien. Alle sahen verrostet aus.
»Was ist das hier?«, fragte Kullmann.
»Die Schwellen waren für den Weiterbau des Schienennetzes vorgesehen. Und diese Rohre sollten der Bewetterung dienen. Aber der geplante Ausbau hat nie stattgefunden. Deshalb vergammeln diese Sachen jetzt hier.«
Anke fuhr mit dem Finger darüber und spürte eine kalte, feuchte Patina. Angeekelt rieb sie sich den Finger an ihrer Jacke ab.
Sie gingen weiter durch den Stollen, dessen Wände nach und nach die Form eines Gewölbes annahmen. Der Anblick beruhigte Kullmann, weil er genau wusste, dass nur Gewölbe mit grobem Stein größere Räume ohne Unterstützung von Pfeilern oder anderen Hilfskonstruktionen stabil halten konnten. Lose Gesteinsbrocken hinter den Verzugsmatten schimmerten im Schein der Taschenlampe und boten einen charakteristischen Anblick.
Die Schienen auf dem Boden endeten plötzlich. Der Lehm unter ihren Füßen ging in stabilen Steinboden über, was das Gehen deutlich beschleunigte.
Immer mehr Gänge nach allen Seiten tauchten auf. Anke und Kullmann mussten aufpassen, dass sie Pierre nicht aus den Augen verloren. Die Finsternis wurde immer bedrückender, je tiefer sie in den Berg hineingingen. Die Stahlrundbögen, die plötzlich an der Decke auftauchten, zeigten ihnen, dass die Last, die das Gewölbe tragen musste, immer größer wurde. Lampen waren ebenfalls zu erkennen. Doch keine von ihnen war eingeschaltet.
»Jetzt sind wir auf der deutschen Seite und auf der vierten Sohle«, erklärte
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