Blutige Seilfahrt im Warndt
Dunkelheit war der Förderturm der stillgelegten Grube Puits Sainte Charles kaum auszumachen. Sie fuhren mit Pierres altem Renault über holprige Straßen. Das schlecht gefederte Auto ließ Anke in jedem Schlagloch sämtliche Knochen schmerzhaft spüren. Als es hieß, es sei nicht mehr weit, war sie heilfroh, denn sie wollte sich in dem Stollen noch bewegen können.
Sie steuerten ein altes zerfallendes Gebäude an, vor dem der Fahrer des Wagens stehen blieb. Anke fühlte sich unsicher. Das sah nach einer Ruine aus, aber keinesfalls nach einer Sandgrube mit verstecktem Bergestollen.
»Das war früher der Pferdestall, der zur Grube gehörte«, erklärte Pierre. Dann schaltete er die Scheinwerfer aus und nichts war mehr zu sehen.
Sie packten die alten Helme und Taschenlampen, die Pierre ihnen für diese Exkursion ausgehändigt hatte, und stiegen aus dem Wagen.
»Hier ist dieser Eingang?«, fragte Kullmann, der ebenfalls verdutzt wirke. Er leuchte mit seiner Taschenlampe über den Kopfsteinpflasterhof.
»Nein! Wir stellen nur das Auto hier ab, weil das sicherer ist. Jetzt gehen wir am Pferdestall vorbei, überqueren die Straße und dann erst kommen wir an die Stelle, wo sich das Mundloch befindet.«
»Warum so kompliziert?«, murrte Kullmann. »Laufen müssen wir unter Tage noch genug.«
»Ich will einfach nicht, dass man uns von der Straße aus sieht!«
Sie gingen los. In der Stille hörten sie gelegentlich den Ruf einer Eule. Ansonsten herrschte in dieser einsamen Gegend eine Grabesstille. Der Mond trat hinter den Wolken hervor. Und diesem fahlen Licht konnten sie den mächtigen Förderturm ausmachen, der in den Himmel ragte.
Sie kletterten einen grasbewachsenen Hügel hoch. Dahinter lag eine schmale Straße, auf der um diese Zeit kein einziges Auto fuhr. Auf der gegenüberliegenden Seite war alles eingezäunt. Doch das hielt Pierre nicht auf. Er ging eine Weile an diesem Zaun entlang, bis er an eine Stelle kam, die niedergetrampelt war. Dort kletterten sie drüber weg und rutschten einen steilen Hügel hinunter. Der Boden wurde weicher. Das Gras zu ihren Füßen war nass. Ohne zu leuchten, überquerten sie ein großes Gelände, das von einem Hang gesäumt wurde. Erst als sie davorstanden, konnten sie erkennen, dass dieser Hang aus Sandstein bestand. Sofort stach ihnen ein Eingang entgegen. Kullmann steuerte euphorisch darauf zu, doch je näher er kam, umso deutlicher wurde im Licht der Taschenlampe, dass dieser Stollen zugemauert war.
»So einfach ist es leider nicht«, meinte Pierre. »Wir müssen hier entlang.«
Er leuchtete auf einen Abhang voller Gestrüpp.
Anke und Kullmann unterdrückten ein Stöhnen. Sie hatten sich diese Aktion leichter vorgestellt. Mühsam kraxelten sie durch Hecken und Dornensträucher, bis sie endlich einige Meter tiefer wieder auf Pierre trafen, der wie ein Wiesel über diese unwegsamen Pfade huschte.
»Hier ist es!«, sagte er und ließ die beiden erst einmal suchen.
Sie sahen nichts außer wild wucherndem Gestrüpp. Kullmann schob es mit seinen Händen auseinander. Sein Lichtkegel traf auf ein Gitter.
»Richtig. Dort ist es. Das Gitter ist nicht mehr verschlossen. Aber niemand kommt auf diesen Eingang, weil die Hecken alles verdecken.«
Anke staunte. Mit Schwung hob der kleine, alte Mann das Gitter an und der Eingang in einen finsteren Gang, der in den Berg hineinführte, offenbarte sich vor ihren Augen.
Sie traten hinein. Hinter ihnen zog Pierre das Gitter wieder an seinen Platz zurück. Dann machten sie sich auf den Weg. Pierre ging voraus, Anke folgte ihm und Kullmann bildete den Abschluss. So mussten sie sich die ersten hundert Meter gebückt durch einen engen Tunnel hindurch kämpfen, bis er höher wurde. Die Taschenlampen spendeten genügend Licht, um alles erkennen zu können. Und was sie sahen, beeindruckte sie. Vor ihren Augen erstreckte sich ein steinerner Durchgang aus unregelmäßig herausgehauen Steinen. Auf der rechten Seite befand sich ein grober Mauervorsprung. Als Anke darüber schauen wollte, wurde sie von Pierre gepackt und wieder auf den Boden gestellt.
»Bleib immer auf dem Weg. Alles andere ist viel zu gefährlich.«
Anke erschrak.
»Ist es das erste Mal, dass Sie unter Tage sind?«, fragte Pierre.
Anke nickte.
»Dann haben Sie etwas verpasst. Denn das hier ist nur ein Stollen. Die wirklich interessanten Stellen des Bergbaus kommen noch«, erklärte er.
Der steile Abstieg machte den Marsch nicht leichter. Sie hatten Mühe, nicht zu stolpern.
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