Blutige Stille. Thriller
Schulter, bin erstaunt, dass der Jüngere viel gesprächiger ist als sein älterer Bruder. »Zum Beispiel englische Autos, oder einen Buggy, den ihr noch nie zuvor gesehen habt. Fremder Besuch, so was in der Art.«
»Nein.«
»Habt ihr vielleicht etwas gehört?«, fragt Glock. »Ungewöhnliche Geräusche? Schreien, Weinen?«
»Nein.« Isaac sieht seine Eltern fragend an. »Ist mit den Planks etwas passiert?«
»Ich hab Marys Unterwäsche gesehen!«, platzt Billy heraus, dann schlägt er sich mit der Hand auf den Mund und wird puterrot.
Seine seltsame Bemerkung lenkt alle Aufmerksamkeit auf ihn. Erst in dem Moment wird mir klar, dass er zwar älter ist als sein Bruder, aber geistig zurückgeblieben. Er ist etwas sprachbehindert, rollt das R und kann kein D aussprechen. Mentale Retardierung kommt bei den Amischen etwas häufiger vor als beim Rest der Bevölkerung. Über die Ursache gibt es verschiedene Theorien. Die gängigste sieht den Grund in dem beschränkten Genpool – kaum ein Amischer heiratet außerhalb der Glaubensgemeinschaft, und nur wenige Nicht-Amische entscheiden sich für das
schlichte Leben
. Der Genpool ist seit ungefähr zwölf Generationen geschlossen.
»Und wann war das, Billy?«, frage ich.
»Ich weiß nicht.« Als er zu mir aufblickt, sehe ich, dass er stark schielt. »Ein Tag. Es war sonnig. Sie war hübsch.«
»Hast du auch fremde Menschen gesehen?«, will ich wissen.
»Keine Fremden.«
»Vielleicht Autos oder Buggys? Hast du irgendwelche Geräusche gehört?«
»Nein.« Er beißt sich auf die Unterlippe, sieht seinen Vater an. »Ist Mary okay?«
Ich blicke William an.
Der Vater verzieht das Gesicht, dann legt er dem Jungen die Hand auf die Schulter. »Mary ist an einem guten Ort, Billy. Zusammen mit ihrer ganzen Familie.«
6 . KAPITEL
Kurz vor neun traf John Tomasetti im Rhoades State Office Tower im Zentrum von Columbus ein, dem Sitz des BCI -Hauptquartiers. Eigentlich hätte er sich auf sein Tagesprogramm konzentrieren müssen, den Vortrag, den er heute Nachmittag vor einer Gruppe von Sheriffs im Marriott-Hotel in Worthington halten sollte, sowie die Befragung des Mannes, der im Franklin County Gefängnis in der Front Street einsaß und verdächtigt wurde, an der Erschießung einer Kindergärtnerin beteiligt gewesen zu sein.
Doch als er im vierzehnten Stock aus dem Aufzug trat und zu seinem Büro ging, dachte John Tomasetti nur an Chief of Police Kate Burkholder und den Fall, der ihn zurück nach Painters Mill bringen würde. Sie hatten zwar ziemlich oft miteinander telefoniert, sich aber seit zwei Monaten nicht mehr gesehen. Bis jetzt lief es zwischen ihnen ganz gut – die Freundschaft, der Sex –, aber die Entfernung war nicht unproblematisch. Oder vielleicht war ihre Beziehung auch einfach zu schnell zu intensiv geworden. Doch Kate war vorsichtig, eine der vielen Eigenschaften, die er an ihr schätzte.
Außerdem musste er zuerst ein paar persönliche Probleme bewältigen, um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Das jedenfalls war sein Ziel. Trotzdem wollte er sie sehen und hatte schon seit einiger Zeit einen Vorwand gesucht, zu ihr zu fahren. Sie arbeiteten gut zusammen, und es sah aus, als könnte sie seine Hilfe brauchen.
Aber es störte ihn, dass sie gezögert hatte, ihn zu fragen. Tomasetti kannte den Grund – sie befürchtete, dass er nicht damit klarkommen würde. Weil ein Fall, bei dem eine Familie mit Kindern ermordet wurde, zu sehr seiner eigenen Geschichte glich. Vielleicht hatte sie recht, und der Fall würde seine schlimmsten Albträume wiederaufleben lassen. Doch vielleicht zählte das nur zu den zahllosen Hürden, die er nehmen musste, um irgendwann ans Ziel zu kommen.
All das ging ihm durch den Kopf, als er Special Agent Supervisor Denny McNinch erblickte. Er stand vor Tomasettis Bürotür und tat, als betrachte er die gerahmte Fotografie von 1947, die das Zentrum von Columbus zeigte und an die Wand gelehnt auf dem Boden stand wie zum Ausrangieren.
»Morgen.« Denny schob die Hände in die Hosentaschen und spielte den Harmlosen. »Hast du einen Moment Zeit?«
Tomasetti war schon lange genug dabei, um zu wissen, dass der Grund niemals harmlos war, wenn Denny frühmorgens vor seinem Büro stand. »Sicher. Komm rein, nimm Platz.«
»Im Konferenzraum, John.«
Oh-ha
, dachte er. Im Konferenzraum wurde nur Wichtiges verhandelt. Einstellungen, Entlassungen. Besprechungen mit hochrangigen Vorgesetzten, die mit Juristenjargon um sich warfen, in
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