Blutiger Frühling
nötiger als ich.«
Sie mühte sich weiter. »Wie ist das gekommen?«, fragte sie voll großer Besorgnis.
»Hab dich da rausgeholt ... bevor einer ... dich niedermachen konnte«, wisperte Balzer. »Das mit der Beule ... das tut mir Leid ... aber anders hätt ich dich ja nicht bewegen können ...« Er rang nach Atem. »Dann bin ich mit dir in den Wald ...«, fuhr er mit sonderbar keuchender Stimme fort, »und ... hab mich totgestellt ...« Er musste wieder um Luft kämpfen. »Kenn mich aus ... Mädchen ...«, hauchte er. »Keiner hat gemerkt, dass wir noch ... lebten ... aber auf mich hat doch noch einer ... mit seiner verdammten Armbrust geschossen ...«
»Bitte, Balzer«, befahl ihm Anna Elisabeth, »schweig jetzt – und streng dich nicht unnötig an. Ich verbinde dich, damit du nicht noch mehr Blut verlierst!«
»He«, flüsterte er, »ich sagte doch schon ... es hat keinen Zweck ... in mir ist kaum mehr genug Blut ... um eine Katze am Leben zu halten ...« Er heftete den Blick auf Anna Elisabeth. »Weißt du, kleines Ännchen«, fügte er mit einem sanften Lächeln hinzu, »es würde ohnehin ... nicht gut gehen ... mit uns beiden ... weil ich ...« Der Atem stockte ihm. Er tastete nach ihrer Hand und presste sie heftig. »Nur ...«, hauchte er, beinahe nicht mehr hörbar, »ich hab dich trotzdem ... so lieb ...«
Das Licht in seinen Augen erlosch. Der Griff seiner Hand lockerte sich, löste sich ganz. Sein Atem versiegte, und er sank in sich zusammen.
»Balzer«, sagte Anna Elisabeth, »ich mag dich auch. Wir könnten ja Freunde bleiben – wir sind doch Freunde?«
Er gab keine Antwort. Erst jetzt erkannte Anna Elisabeth, dass er gestorben war, und schlug die Hände vors Gesicht.
Vor einer halben Stunde hatte sie den Meilenstein passiert, auf dem sie mühsam buchstabierend den Namen »Amorbach« gelesen hatte. Bis dahin sollten es noch fünfzig Meilen sein – einlanger Weg, aber wenn sie bedachte, wie viele Tage ihrer beschwerlichen Reise schon hinter ihr lagen, dann kam ihr diese Entfernung klein vor.
Sie hatte Schrecken über Schrecken gesehen. Kein Dorf, in dem nicht Galgen standen ... das Bild der riesigen Eiche, an der sie vor zwei Tagen vorübergekommen war, würde sich nie mehr aus ihrem Gedächtnis löschen lassen. Mehr als zwanzig Gehenkte hatten an den dicken unteren Ästen des Baumes gehangen und sich leise, an knarrenden Seilen, im Wind gedreht. Und ein Schwarm von Rabenkrähen ...
Anna Elisabeth schloss die Augen. Aber das Entsetzen war da und ließ sich nicht vertreiben. Überall zerrten jetzt die Büttel des Truchsess die überlebenden Aufständischen aus ihren Häusern, und die Henker kamen gar nicht nach mit Hängen, Vierteilen, Köpfen und Rädern ...
Anna Elisabeth hatte Glück gehabt, so unversehrt bis hierher durchzukommen. Sonderbarerweise hatte niemand sich um die Frau in dem wettergebleichten blaugrauen Mantel gekümmert, die auf einem alten Maultier unterwegs war – wer weiß, wohin. Viele Frauen lagen heutzutage auf der Straße, irrten mit ihren unmündigen Kindern im Land umher, versuchten sich durch Betteln am Leben zu erhalten. Ihre Männer waren gefallen oder hingerichtet. Ihre Bleibe, ihre Heimat hatten sie verloren, ganz so wie Anna Elisabeth.
Ringsumher blühten die Wiesen in voller, sommerlicher Pracht. Weiße Margeriten schwankten auf schlanken Stängeln im warmen Wind, einträchtig neben gelbem Hahnenfuß und violetten Witwenblumen. Doch Anna Elisabeth hatte keine Augen für all diese Schönheit. Sie hockte auf ihrem Muli, das vor zwei Tagen zu lahmen begonnen hatte und dessen Gang immer schwerfälliger und langsamer wurde, und dachte an nichts mehr. Ihre Welt hatte keine Farben.
Albrecht war tot. Sie hatte ihn mit eigenen Augen vom Pferdfallen sehen auf dem Schlachtfeld vor Sulzdorf. Niemand hatte in dem grauenhaften Getümmel von wütend hauenden, stechenden, metzelnden Lanzknechten überleben können. Er würde niemals mehr zu ihr heimkehren, und sie war allein.
Was wohl aus Hannes geworden war ...? Ein müßiger Gedanke. Sie zog sich die Kapuze gegen die hellen Sonnenstrahlen tiefer ins Gesicht. Auch er würde nicht wiederkommen – ebenso wenig wie der Schmiedejörg, der arme Matthias und der Schweineheinz. Schon die Chancen, dass sie alle das Gemetzel von Böblingen überlebt hatten, standen mehr als schlecht. Selbst, wenn sie aus Sulzdorf noch ohne Verwundung herausgekommen waren, hatte man sie mit höchster Wahrscheinlichkeit jetzt schon an irgendeinem
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