Blutiges Eis
erklärt hatte, wer sie sei und in welcher Angelegenheit sie komme, brauchte Mrs. Lefebvre gute zwei Minuten, um unter mehrfachem Niesen und Naseschnäuzen den Weg zum Ende des Flurs zurückzulegen und ein Schlüsselbund hervorzukramen, bevor sie wieder zur Tür zurückkam, wo Delorme wartete – ein Ausflug, von dem sie sich, an die Wand gelehnt, erst einmal erholen musste.
»Wie schaffen Sie denn alleine ein so großes Gebäude?«, fragte Delorme.
»Oh, damit hab ich gar nichts zu tun, meine Liebe. Mein Bruder erledigt alle Reparaturen und die Wartung. Ich ziehe nur die Miete ein. Hören Sie, macht es Ihnen was aus, wenn ich nicht mit hochkomme? Ich bin nicht ganz auf dem Posten.«
»Tut mir leid, aber es geht nicht ohne Sie. Wenn Dr. Cates zurückkommt und es fehlt etwas, möchte ich nicht, dass sie denkt, die Polizei hätte es weggenommen.«
Der Weg durch den Flur in den Fahrstuhl bis zur Wohnung der Ärztin dauerte fünfmal so lang wie normalerweise. Über den größeren Teil der Strecke suchte Mrs. Lefebvre an der Wand Halt.
»Was für einen Wagen fährt Dr. Cates?«
»Einen PT Cruiser. Normalerweise wüsste ich das nicht auf Anhieb. Ich weiß es nur, weil es so ein schnuckeliges, kleines Auto ist und ich sie einmal gefragt hab, als sie gerade ihre Lebensmittel rausholte. Es steht noch auf ihrem Parkplatz hinter dem Haus.«
Mrs. Lefebvre lehnte sich mit puterrotem Gesicht gegen den Türpfosten, während Delorme die Wohnung aufmachte, und setzte sich drinnen auf den nächstbesten Holzstuhl. »Ich hau mich hier hin. Sagen Sie mir nur Bescheid, wenn Sie fertig sind.«
Die Lampen waren an, wie Delorme sofort bemerkte, als sie eintrat. Auch die Gardinen waren nicht zugezogen. Ein großes Flachglasfenster ging auf den Nipissing-See hinaus, der grau und trübe unter dem schräg einfallenden Regen lag.
Die Wohnung vermittelte den Eindruck behaglicher Unordnung. Die Möbel waren neu, im Landhausstil, wie Delorme sie nur aus Katalogen kannte. Eine bunte Wolldecke lag zusammengeknüllt am einen Ende des Sofas. Auf dem Couchtisch türmten sich Videos. Aus einem randvollen Papierkorb quollen Zeitschriften – The New Yorker, Maclean’s, Scientific America . Die Bücherregale bogen sich unter Thrillern im Taschenbuchformat, die kreuz und quer hineingestopft waren. Überall standen halb leere Kaffeetassen und Weingläser herum, und allenthalben fanden sich Gegenstände am falschen Fleck – ein Bügeleisen auf dem Couchtisch, ein Squashschläger im Esszimmerbereich, ein BH über einer Stuhllehne.
Nicht gerade eine Ordnungsfanatikerin, dachte Delorme. Das Entscheidende war, dass nichts zerbrochen, nichts umgeworfen war und somit auf einen Kampf hingedeutet hätte.
Sie ging langsam durchs Wohnzimmer, die Hände in den Hosentaschen, um nichts anzufassen. Über den Couchtisch gebeugt blieb sie stehen. Von einer Videohülle starrte ihr Mel Gibson entgegen: »Fletcher’s Visionen«. Auf dem Sofa lagen zwei Fernbedienungen, eine für den Fernseher und eine für den Videorekorder. Der Bildschirm war dunkel, doch das rote Lämpchen leuchtete.
Auf dem Tisch stand ein Teller mit Keksen, zwei Keksen, genau gesagt, neben einem fast vollen Henkelbecher Tee.
In der Küche war das Spülbecken ein einziger wackeliger Turm Kochgeschirr. Delorme hob den Deckel von einer kleinen braunen Teekanne. Sie war halb voll. Nicht weit davon lag eine Tüte Pepperidge Farm Cookies, in der die erste Reihe Kekse fehlte. Delorme pflegte selber ein ähnliches Ritual: ein Video, ein Glas Milch, ein Teller Kekse – das perfekte Beruhigungsmittel. Offenbar war die Ärztin mitten in ihrem Imbiss weggerufen worden. Ein Patient? Ein Verwandter? Dieser Freund?
»Haben Sie in den letzten Tagen Fremde im Haus gesehen?«
»Nee. Nur die üblichen. Nicht dass ich ne Liste führe. Ich bin der unvorwitzigste Mensch, den Sie sich vorstellen können – abgesehen davon, dass meine Wohnanlage mitten im Gebäude ist. Liegt ja nicht zur Straße oder zum Parkplatz raus.«
»Wer hat Dr. Cates regelmäßig besucht?«
Mrs. Lefebvre schniefte und betupfte ihre Augen. »Kann ich Ihnen nicht sagen. Sie ist ja erst seit ein paar Monaten hier. Zahlt pünktlich ihre Miete, beschwert sich nicht. Alles andere ist mir egal. Dass Sie mich nicht falsch verstehen. Meine Mieter sind mir natürlich nicht egal. Aber normalerweise lerne ich nur die auf meinem Stock kennen. Sie wissen schon,man läuft sich mal über den Weg, bringt ihnen die Post mit hoch und so was.«
»Haben
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