Blutiges Eis
glasgefassten Eingangstür. Draußen strahlte die Vorstadtkulisse unter blauem Himmel.
»Hören Sie«, sagte Professor Cates, »wann, glauben Sie, werden Sie ihn festnehmen?«
»Dafür haben wir nicht genügend Beweise gegen ihn.«
»Aber Sie wissen, dass er es war, oder?«
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir noch keine dringend Tatverdächtigen. So schlimm Mr. Simmons’ Verhalten gewesen sein mag, ist er deswegen noch nicht schuldig.«
Professor Cates betrachtete sie von oben bis unten, als gelte es, ihre Leistung zu benoten. Delorme konnte die Sechs förmlich sehen. »Eines wüsste ich nur gern«, sagte er. »Wozu soll der Verein, für den Sie arbeiten, gut sein, wenn Sie einen solchen Mann nicht hinter Schloss und Riegel bringen können?«
Das Leid der Cates lastete den ganzen Heimweg über auf Delorme. Sie versuchte, sich in die völlige Verzweiflung von Eltern hineinzuversetzen, die ein Kind verlieren, aber sie wusste, dass sie es nicht konnte. Unentwegt sah sie das Gesicht der jungen Ärztin vor sich, und Delorme schwor sich noch einmal, nicht zu ruhen, bis sie denjenigen geschnappt hatte, der ihr die Zukunft gestohlen hatte.
Ihre Gedanken wanderten erneut zu dem obsessiven Corporal Simmons, und auf einmal kam ihr ein eigener ehemaliger Freund namens René in den Sinn, der sich ähnlich obsessiv benommen hatte. Er meldete sich immer noch gelegentlich, gewöhnlich um zwei Uhr morgens. Meistens war er betrunken und sentimental und drohte unentwegt, er würde sich umbringen. Einmal war er plötzlich bei ihr aufgekreuzt, als sie mit einem anderen Mann zusammen war. Sie liegen auf dem Sofa und küssen sich, als es klingelt und René schwankend auf der Matte steht und mit den Fäusten gegen das Fliegengitter trommelt. Das hatte den neuen Freund äußerst nervös gemacht, und er kam nie wieder. Das Letzte, was sie gehört hatte, war, dass René in Vancouver gelandet sei – und geb’s Gott, dass er dort blieb.
Das Problem war, dass nicht viele ideale Männer in Algonquin Bay herumliefen und Delorme nicht die Absicht hatte, mit irgendjemandem in ihrer Dienststelle eine romantische Verbindung einzugehen. Es wäre schön, wenn jemand wie Cardinal – nicht Cardinal selbst, versteht sich – auf einmal vor ihrer Tür stünde. Einen weniger obsessiven Mann als Cardinal konnte sich Delorme kaum vorstellen. Da hast du deine stille Liebe, Professor. Man konnte Cardinal nicht gerade als einen glücklichen Menschen bezeichnen – er war ein Grübler, vielleicht sogar irgendwie deprimiert –, aber er sprach nie anders als mit Zuneigung von seiner Frau. Ihre Krankheit erwähnte er mit keiner Silbe, nicht ein einziges Mal. Und doch musste sein Leben mit ihr schwierig sein. McLeod behauptete, Cardinal habe seine Tochter praktisch allein aufgezogen. Zugegeben, es war oft ganz schön anstrengend, mit Cardinal zu arbeiten, er machte Fehler – man denke nur an diese unselige Bouchard-Geschichte in seiner Vergangenheit –, aber auf jemanden wie Cardinal konnte man sein Leben verpfänden, und er würde einen nie im Stich lassen.
Delorme musste unvermittelt bremsen, weil bei Sturgeon Falls plötzlich ein Lkw in den Highway einbog. Du liebe Güte, dachte sie, wieso muss ich an Cardinal denken? Er denkt mit Sicherheit nie an mich. Sie machte das Radio an. Ein Nachrichtensprecher gab bekannt, dass vor einem Restaurant in Montreal eine Rohrbombe hochgegangen sei, mit schönem Gruß von der French Self-Defence League, aus Protest gegen das englische Schild des Restaurants. Delorme schaltete auf einen französischen Pop-Sender um – Céline Dion, die über eine verlorene Liebe wehklagte – und beschloss, John Cardinal aus ihren Gedanken zu verbannen.
Zurück im Büro, schob Delorme einen Anruf in der Praxis des Coroners im Ontario Hospital dazwischen. Sie hatte zuerst Dr. Barnhouse am Apparat, der den Hörer an den Gastpathologen,Dr. Alain Lortie, weiterreichte. Er klang jung, doch selbstbewusst.
»Diese Frau starb an der Strangulation, das steht außer Zweifel. Wir haben Blutungen in den Lungen und den Augen, ganz zu schweigen von dem gebrochenen Zungenbein im Hals. Ich würde mal vermuten, dass das jemand getan hat, der ganz schön kräftig ist.«
»Und was ist mit Vergewaltigung, Doktor? Wir haben ihre Kleider ganz in der Nähe im Wald gefunden, die ihr offenbar vom Leib gerissen wurden.«
»Heruntergerissene Kleider könnten auf sexuelle Gewalt hinweisen. Vaginale Hämatome – und damit haben wir es hier zu tun
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